Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Tschechowschen Intelligenzlern auf ihr stets banges Fragen nach der Welt – wie sie in zwanzig, dreißig, vierzig Jahren wohl aussieht – geantwortet hätte, daß in vierzig Jahren in Rußland die peinliche Befragung eingeführt sein würde, die da war: den Schädel mit einem Eisenring zusammenpressen, den Angeklagten in ein Säurebad tauchen, ihn nackt und gefesselt den Ameisen oder Wanzen aussetzen, ihm eine glühende Stahlrute in den After treiben («Geheimstempel»), langsam mit dem Stiefel seine Geschlechtsteile zertreten und, als leichtester Grad, ihn tagelang mit Schlaflosigkeit und Durst martern, ihn zu einem blutigen Klumpen schlagen – dann wäre kein Tschechow-Stück zu Ende gegangen, dies hätte alle Helden ins Irrenhaus gebracht.
Ach, nicht nur die Tschechowschen Gestalten – welcher normale russische Mensch, nicht minder jedes Mitglied der RSDRP, hätte am Beginn des Jahrhunderts solches glauben, eine solche Schmähung der lichten Zukunft ertragen können? Was zu Zar Alexej Michailowitsch noch paßte, was unter Peter I. bereits als barbarisch empfunden wurde, was unter Biron an zehn bis zwanzig Personen angewandt werden konnte und seit der Großen Katharina völlig unmöglich war, das wurde in der Blütezeit des brillanten 20. Jahrhunderts, in einer Gesellschaft, die nach sozialistischen Grundsätzen geplant war, in Jahren, als bereits Flugzeuge flogen, Tonfilm und Radio erfunden waren, vollzogen, nicht von einem einzelnen Bösewicht, nicht an einem einzelnen verborgenen Ort, sondern von Zehntausenden darauf gedrillten Menschenbestien an wehrlosen Millionen von Opfern.
Und ist wirklich nur dieser Ausbruch des Atavismus so grauenhaft, der heute wohlgefällig als «Personenkult» bezeichnet wird? Oder ist’s schrecklich, daß wir in denselben Jahren das Puschkin-Jubiläum feierten? Schamlos dieselben Tschechow-Stücke aufführten, obzwar die Antwort schon gegeben war? Oder ist’s noch schrecklicher, daß uns auch noch dreißg Jahre später gesagt wird: Lassen wir das! Das Erinnern an die Leiden von Millionen verzerrt die historische Perspektive! Die Suche nach dem Wesen unserer Sitten verdunkelt den materiellen Fortschritt! Denkt doch lieber an die angeblasenen Hochöfen, an die Walzwerke, an die gezogenen Kanäle … nein, nicht an die Kanäle … dann an das Gold von Kolyma, nein, auch das wollen wir sein lassen … An alles mögliche, bitte sehr, aber – mit Verstand, mit lobender Anerkennung …
Es ist nicht recht zu verstehen: Warum verwünschen wir heute die Inquisition? Hat es denn außer den Scheiterhaufen keine feierlichen Gottesdienste gegeben? Schwer zu begreifen, was wir an der Leibeigenschaft auszusetzen haben. War es dem Bauern denn verboten, sein Tagwerk zu verrichten? Dazu durfte er zu Weihnachten sternsingen, und zu Pfingsten flochten die Mädchen Kränze.
Das Sprachwörterbuch von Dal präzisiert: «Die Ermittlung unterscheidet sich von der Untersuchung dadurch, daß sie der vorläufigen Feststellung dient, ob ein hinlänglicher Grund zur Einleitung behördlicher Untersuchungsmaßnahmen vorliegt.»
Oh, du heilige Einfalt! Die Organe kamen allezeit ohne Ermittlung aus! Von oben zugewiesene Listen oder ein erster Verdacht, die Anzeige eines Spitzels oder sogar eine anonyme Denunziation reichten immer zur Verhaftung und Anklageerhebung aus. Und die der Untersuchung zugeteilte Zeit wurde nicht darauf verwandt, das Verbrechen zu klären, sondern in fünfundneunzig Prozent der Fälle nur darauf, den Untersuchungsgefangenen dahin zu bringen, daß er, übermüdet, erschöpft und entkräftet, alles in Kauf nimmt, damit’s bloß zu Ende geht.
Schon 1919 war das gängigste Mittel im Untersuchungsverfahren: den Revolver auf den Tisch!
Nicht nur politische, auch «zivile» Untersuchungen wurden auf solche Art abgewickelt. Beim Prozeß des Hauptkomitees für Brennstoffbeschaffung Glawtop (1921) beschwerte sich die Angeklagte Machrowskaja darüber, daß man ihr vor den Verhören Kokain eingab. Der Ankläger parierte: «Wenn sie gesagt hätte, daß man grob mit ihr umgegangen war, ihr mit Erschießen drohte, dann hätten wir all dies noch halbwegs glauben können. » Der Revolver liegt auf dem Tisch, wird manchmal auf dich gerichtet, und der Untersuchungsrichter strengt sich nicht sonderlich an, eine Schuld für dich zu ersinnen, vielmehr: «Erzähl schon, du weißt ja selbst!» So sprach 1927 der Untersuchungsrichter Chajkin zu der Skripnikowa, so sprachen sie 1929 zu Witkowski. Auch
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