Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
trotzdem paßte nicht alles zusammen, so daß man sie fürs erste heimfahren ließ, wo sie sich bald in antisowjetische Agitation verstrickten, weil sie das freie und satte Leben im kapitalistischen Schweden in den leuchtendsten Farben beschrieben (Gruppe Kadenko).
Die Geschichte hatte ihre anekdotische Fortsetzung. Im Lager ließen sie von Schweden kein Wort mehr verlauten: Es hätte ihnen eine zweite Straffrist eingebracht. Aber in Schweden hatte man irgendwie von ihrem Schicksal erfahren, in den Zeitungen erschienen verleumderische Berichte. Zu jener Zeit waren die Burschen über viele nähere und fernere Lager verstreut. Plötzlich ließ man sie alle mit Sonderkommandos in die Leningrader Kresty bringen, wo sie zwei Monate intensiv aufgepäppelt wurden, währenddessen ihnen auch neue Frisuren wuchsen. Danach wurden sie mit bescheidener Eleganz eingekleidet, auf den kommenden Auftritt gedrillt, streng dahingehend verwarnt, daß jedes Schwein, das aus der Reihe tanzt, «neun Gramm» ins Genick bekommt – und bei einer Pressekonferenz den geladenen ausländischen Journalisten und sonstigen Personen, die sie aus Schweden kannten, vorgeführt. Die ehemaligen Internierten hielten sich gut, erzählten frisch von der Leber weg, wo sie lebten, arbeiteten, studierten, und empörten sich über die bürgerliche Hetze, über die sie vor kurzem in der westlichen Presse gelesen hatten (die wird ja bei uns an jedem Kiosk verkauft!), worauf sie sich nach kurzer Absprache in den Zug gesetzt hatten und nach Leningrad gefahren waren (nach den Reisekosten fragte niemand). Ihr munteres, gepflegtes Aussehen war das beste Dementi. Die bloßgestellten Journalisten schrieben Entschuldigungen. Westliche Phantasie war außerstande, das Geschehene anders zu erklären. Die Objekte des Interviews aber wurden schnurstracks ins Gefängnis gebracht, kahl geschoren, in die alten Lumpen gekleidet und in dieselben Lager zurückgeschickt. Da sie sich mustergültig benommen hatten, ging’s ohne Zusatzstrafen ab.
Ganz für sich floß in den letzten Jahren des Krieges der Strom der deutschen Kriegsverbrecher; sie wurden aus dem System der allgemeinen Kriegsgefangenenlager herausgeholt und via Gericht ins GULAG-System überstellt.
Obwohl der Krieg mit Japan keine vollen drei Wochen dauerte, wurde 1945, zur Deckung des dringenden Bauarbeiterbedarfs in Sibirien und Mittelasien, eine Unmenge von japanischen Kriegsgefangenen gemacht, und wiederum stellte auch dieses Kontingent seine Kriegsverbrecher für den GULAG.
Ende 1944, als unsere Armee den Balkan überrollte, und besonders 1945, als sie Mitteleuropa erreichte, fingen die Kanäle des GULAG auch noch den Strom der russischen Emigranten auf: der alten, die seit der Revolution dort saßen, und der jungen, bereits dort aufgewachsenen. In der Regel wurden die Männer in die Heimat befördert, die Frauen und Kinder beließ man in der Emigration. Nicht alle wurden einkassiert, das stimmt, bloß jene, die irgendwann in den fünfundzwanzig Jahren oder vordem in der Revolution, wie zaghaft auch immer, eine politische Meinung geäußert hatten. Wer rein dahinvegetierte, blieb ungeschoren. Die Hauptströme flossen aus Bulgarien, Jugoslawien, der Tschechoslowakei, weniger aus Österreich und Deutschland; in den übrigen osteuropäischen Ländern hat es kaum Russen gegeben.
In beiden Jahren 1945 und 1946 verarbeitete der Archipel den großen Strom der diesmal echten Gegner der Macht (der Wlassow-Leute und Krasnow-Kosaken, der Mohammedaner aus den von Hitler aufgestellten Nationalverbänden) – sie hatten gekämpft, manchmal aus Überzeugung, manchmal unter Zwang.
Zugleich wurde MINDESTENS EINE MILLION SOWJETFLÜCHTLINGE ergriffen; Zivilpersonen aller Altersstufen und beiderlei Geschlechts, die sich glücklich aufs Territorium der Alliierten zu retten vermochten, von diesen jedoch 1946/47 auf heimtückische Weise an die sowjetischen Behörden ausgeliefert wurden.
Unmöglich scheint es, im Westen ein politisches Geheimnis lange zu verbergen, unweigerlich dringt etwas in die Presse, an die Öffentlichkeit; um so erstaunlicher also, daß gerade das Geheimnis dieses Verrats von der britischen und amerikanischen Regierung so sorgfältig bewahrt werden konnte, fürwahr das letzte Geheimnis des Zweiten Weltkriegs oder doch von den letzten eines. Ich konnte, der ich vielen dieser Leute in den Lagern und Gefängnissen begegnete, ein Vierteljahrhundert lang nicht recht glauben, daß die westliche Öffentlichkeit über
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