Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
diese in ihren Maßstäben grandiose Auslieferung von einfachen russischen Menschen nichts wisse, von ihrer Übergabe an die Willkür, ihrer Freifahrt in den Untergang. Erst 1973 ( Sunday Oklahoma, 21. 1.) tauchte eine Publikation von Julius Epstein auf, dem ich hiermit die Dankbarkeit der zugrunde gegangenen Tausenden und der wenigen Überlebenden zu übermitteln mir die Freiheit nehme. Ein kleines bruchstückhaftes Dokument fand ich da abgedruckt – aus dem bis heute geheimgehaltenen vielbändigen Material über die Zwangsrepatriierung in die Sowjetunion. Nachdem sie zwei Jahre unter britischer Hoheit verlebt hatten und sich in Sicherheit wähnten, waren die Russen völlig überrumpelt und hatten nicht mal Zeit zu begreifen, daß sie repatriiert wurden … Es waren überwiegend einfache Bauern, mit einem persönlichen bitteren Groll gegen die Bolschewiki im Herzen. Die britischen Behörden aber verfuhren mit ihnen «wie mit Kriegsverbrechern, lieferten sie gegen ihren Willen an jene aus, von denen ein gerechtes Urteil nicht zu erwarten war». Sie wurden dann allesamt auf den Archipel expediert, auf daß sie dort verkämen. (Anmerkung von 1973.)
Eine bestimmte Zahl von Polen aus der Armija Krajowa und der Anhängerschaft von Mikolajczyk passierte 1945 unsere Gefängnisse auf dem Weg nach GULAG.
Eine bestimmte Zahl von Rumänen und Ungarn.
Seit Kriegsende floß unermüdlich und über viele Jahre der üppige Strom der ukrainischen Nationalisten (die Bendera -Leute).
Es sei erinnert, daß dieses Kapitel mitnichten versucht, alle Ströme aufzuzählen, die das Land GULAG düngten – nur jene von ihnen, die eine gewisse politsche Färbung hatten. Ähnlich wie man im Anatomielehrgang nach der genauesten Beschreibung des Blutkreislaufsystems wieder an den Anfang zurückkehren und mit der Beschreibung des lymphatischen Apparats beginnen kann, so könnte man in abermaliger Rückschau von 1918 bis 1953 die Ströme der Bytowiki und der eigentlich Kriminellen verfolgen. Auch diese Beschreibung würde einen breiten Platz einnehmen. Viele berühmte, nun teilweise auch schon vergessene (obgleich von keinem Gesetz aufgehobene) Verordnungen müßten hier ausgeleuchtet werden: Sie hatten dem unersättlichen Archipel Menschenmaterial im Überfluß geliefert.
Doch wir haben nicht die Absicht, uns in eine weitläufige und ergiebige Betrachtung der kriminellen, disziplinären und sonstwie strafrechtlich einzustufenden Ströme zu vertiefen. Nicht zu übergehen ist indes, da wir nun das Jahr 1947 erreicht haben, eine der großartigsten Stalinschen Verordnungen. Bereits beim Jahr 1932 befaßten wir uns mit dem berühmten Gesetz «vom siebenten Achten» oder «Sieben Achtel», einem Gesetz mit großzügigem Anwendungsbereich: für eine Ähre, eine Gurke, zwei Kartoffeln, eine Spule Garn waren ausnahmslos 10 Jahre festgesetzt.
Allein, die Erfordernisse der Zeit, wie Stalin sie verstand, änderten sich, und jener Zehner, der in Erwartung des harten Krieges auszureichen schien, war jetzt, nach dem welthistorischen Sieg, nicht mehr recht präsentabel. So wurde, abermals das Strafgesetzbuch mißachtend, als hätte es nicht bereits zahlreiche Paragraphen und Verordnungen über Unterschlagungen und Diebstahl gegeben, am 4. Juni 1947 ein sie alle überdeckender Ukas verkündet, den die niemals verlegenen Häftlinge sofort in Ukas «Vier Sechstel» umtauften.
Der Vorzug des neuen Ukas lag erstens in seiner Frische: Schon allein sein Erscheinen mußte zum Aufleben dieser Art von Verbrechen führen und einen reichen Strom von Neubestraften liefern. Doch der noch größere Vorzug lag in den Haftzeiten : Wenn sich ein ängstliches Mädchen zur Ährensuche zwei Freundinnen mitnahm («organisierte Rotte»), wenn ein paar Zwölfjährige gemeinsam auszogen, Gurken oder Äpfel zu klauen, dann erhielten sie bis zu 20 Jahren Lager; für Betriebe war die oberste Grenze auf 25 angehoben (diese Frist selbst, das Viertelmaß, war einige Tage zuvor als Ersatz für die humanerweise aufgehobene Todesstrafe eingeführt worden). Endlich wurde auch das alte Unrecht begradigt, daß nur die politische Nicht-Denunziation ein Staatsverbrechen sei: Nun wurden auch den Nichtanzeigern von Eigentumsdelikten (an Staats-und Kolchosbesitz) 3 Jahre Lager oder 7 Jahre Verbannung aufgebrummt.
Die neue Stalinsche Linie, jetzt, nach dem Sieg über den Faschismus wie niemals zuvor energisch, viel und für lange verhaften zu müssen, wirkte sich natürlich sogleich auch auf die
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