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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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ein Vierteljahrhundert später hatte sich nichts geändert. 1952, als dieselbe Anna Skripnikowa bereits zum fünften Mal eingesperrt wurde, sagte ihr der Chef der MGB-Untersuchungsabteilung von Ordschonikidse, Siwakow: «Wie ich vom Gefängnisarzt höre, steht dein Blutdruck auf 240/120. Das ist zu wenig, du Schwein (sie ist über fünfzig), wir werden dich auf mindestens 340 bringen, damit du endlich krepierst, ganz ohne Schläge, ohne Brüche und blaue Flecken. Wir brauchen dich bloß nicht schlafen zu lassen!» … Und sobald die Skripnikowa nach einem nächtlichen Verhör tagsüber in der Zelle die Augen schloß, kam brüllend und drohend ein Wärter hereingestürzt: «Die Augen auf, die Augen auf, sonst ziehe ich dich an den Beinen von der Pritsche und binde dich stehend an die Wand!»
    Auch 1921 standen die nächtlichen Verhöre an der Spitze. Und auch damals wurden Scheinwerfer beim Vehör aufgestellt (Stelmach von der Rjasaner Tscheka). Und auf der Lubjanka wurde 1926 (Aussage von Berta Gandal) einmal kalte, einmal stinkende Luft in die Zellen geblasen. Und es gab eine Korkzelle, wo man ohnedies keine Luft bekam und noch geröstet wurde. Der Dichter Kljujew hat, dem Vernehmen nach, darin gesessen und Berta Gandal auch. Wassilij Alexandrowitsch Kasjanow, Teilnehmer am Jaroslawler Aufstand von 1918, erzählt, daß solche Zellen so lange angeheizt wurden, bis dem Insassen das Blut aus den Poren trat; sobald die Wärter es durchs Guckloch bemerkten, brachten sie eine Tragbahre und schleppten ihn fort, das Protokoll zu unterschreiben. Bekannt ist die «heiße» (und die «gesalzene») Praxis der «goldenen» Zeit. Und in Grusinien wurden an den Händen der Häftlinge brennende Zigaretten ausgedrückt; im Metechsker Burggefängnis stieß man sie in der Dunkelheit in Behälter voll Unrat.
    So einfach ist das gekoppelt: Wenn Anklage um jeden Preis erhoben werden soll, sind Drohungen, Gewalt und Folter unvermeidlich; und je phantastischer die Anklage ausfällt, desto härter muß die Untersuchung sein, um ein Geständnis zu erzwingen. Da es aber fabrizierte, erfundene Fälle immer gab, hat es auch Zwang und Folter immer gegeben, mitnichten erst als Bestandteil des Jahres 1937: Sie sind ein konstantes Merkmal von allgemeingültigem Charakter. Verwunderlich ist es daher, wenn ehemalige Häftlinge in ihren Erinnerungen heute manchmal schreiben, die Folter sei «im Frühjahr 1938 erlaubt» worden. Geistige oder sittliche Schranken, die von der Folter hätten abhalten können, hat es für die Organe niemals gegeben. In den ersten nachrevolutionären Jahren wurde die Anwendbarkeit der Folter aus marxistischer Sicht ganz offen in den Zeitschriften Wochenblatt der WTschK, Das rote Schwert und Der rote Terror diskutiert. Nach den Folgen zu urteilen, war die Antwort positiv, wenn auch nicht allgemeingültig ausgefallen.
    Richtiger wäre es, über das Jahr 1938 zu sagen: Wenn bis dato die Anwendung der Folter einer bestimmten amtlichen Verbrämung, einer für jeden Untersuchungsfall zu erteilenden Genehmigung bedurfte (wie leicht sie auch immer zu bekommen war), so wurden 1937/38 in Anbetracht der außerordentlichen Situation (die vorgeschriebenen Millionenzugänge zu dem Archipel mußten in vorgeschriebener kürzester Frist durch die Maschinerie des individuellen Untersuchungsverfahrens getrieben werden – ein Novum gegenüber den Massenströmen der Kulaken und der Nationalitäten) die Gewaltanwendung und Folter ohne Einschränkungen bewilligt und die Entscheidung darüber, entsprechend den Erfordernissen der termingerechten Abwicklung, dem Untersuchungsrichter überlassen. Ebensowenig wurde dabei die Art der Folter reglementiert; erfinderische Neuerungen waren beliebig zugelassen.
    1939 wurde diese generelle Bewilligung aufgehoben, wieder bedurfte es einiger Formalitäten, eines Papiers, vielleicht nun nicht mehr so leicht zu beschaffen. (Im übrigen waren einfache Drohungen, Erpressungen, Täuschungen ebenso wie die Marter mit Schlaflosigkeit und Karzer zu keiner Zeit verboten.) Doch bereits vom Kriegsende an und in den Jahren danach wurden bestimmte Kategorien von Häftlingen ausgesondert, an denen von vornherein ein breiter Fächer von Folterungen erlaubt war. Dazu gehörten die Nationalisten, vornehmlich die Ukrainer und Litauer, und vornehmlich dann, wenn es um eine illegale Kette ging, bzw. eine solche vermutet wurde, und es notwendig war, sie bis zum letzten Glied aufzuwickeln, alle Namen aus den Verhafteten

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