Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
herauszuholen.
Und ebenso falsch wäre es, dem Jahr 1937 jene «Erfindung» zuzuschreiben, daß ein persönliches Geständnis des Beschuldigten wichtiger sei als alle Beweise und Fakten; sie geht auf die zwanziger Jahre zurück. Die brillante Lehre Wyschinskis indes war tatsächlich zum Jahre 1937 ausgereift. Im übrigen wurden damals nur Untersuchungsrichter und Ankläger zwecks moralischer Ertüchtigung darin eingeweiht, uns andere erreichte die Kunde erst zwanzig Jahre später – als sie in Nebensätzen und unter ferner liefen in Zeitungsartikeln getadelt, somit ihre Kenntnis als selbstverständlich vorausgesetzt wurde.
Es stellt sich heraus, daß Wyschinski, Andrej Januarjewitsch (ein kleiner Versprecher – Jaguarjewitsch – ist allzu verlockend), in jenem bedrohlich berüchtigten Jahr in seinem unter Fachleuten berühmt gewordenen Referat im Geiste erlesenster Dialektik (die wir weder unseren Staatsbürgern noch jetzt den Computern zubilligen, denn für sie hat ja ja und nein nein zu bleiben) darlegte, daß es der Menschheit niemals möglich sei, die absolute Wahrheit zu finden, und sie sich mit der relativen begnügen müsse. Von daher tat er einen Schritt, den zu wagen den Juristen zweitausend Jahre lang der Mut fehlte: daß folglich auch die von Gericht und Untersuchungsbehörde ermittelte Wahrheit niemals absolut, immer nur relativ sein könne. Daher ist uns, wenn wir ein Todesurteil unterschreiben, die absolute Sicherheit der Schuld des Hinzurichtenden sowieso niemals gegeben, immer nur in einem bestimmten Annäherungsgrad, unter bestimmten Annahmen, in einem bestimmten Sinne.
Hieraus folgt ein überaus sachlicher Schluß: Überflüssige Zeitverschwendung wäre die Suche nach absoluten Indizien (alle Indizien sind relativ), nach untadeligen Zeugen (die könnten einander widersprechen). Die Schuldbeweise aber, welche relativ und annähernd seien, kann der Untersuchungsrichter ohne Indizien und ohne Zeugen finden, gleich hier, an seinem Arbeitstisch, «gestützt nicht bloß auf seinen Verstand, sondern auch auf seinen Parteiinstinkt, seine moralischen Kräfte » (das heißt, auf die Vorteile eines satten, gut ausgeschlafenen und nicht kurz zuvor geprügelten Menschen) «und auf seinen Charakter» (das heißt den Willen zur Grausamkeit).
So kehrten die Schlußfolgerungen der fortschrittlichen Jurisdiktion nach vollbrachter spiralförmiger Entwicklung wieder zu den präantiken oder mittelalterlichen Auffassungen zurück. Gleich den mittelalterlichen Folterknechten waren unsere Richter, Ankläger und Untersuchungsbeamte bereit, den entscheidenden Beweis der Schuld im Schuldbekenntnis des Untersuchungshäftlings zu sehen.
Das treuherzige Mittelalter wählte allerdings dramatische und pittoreske Mittel zur Erlangung des gewünschten Zieles: den Wippgalgen, das Rad, den Schwitzkasten, die spanische Jungfrau, die Pfählung und anderes mehr. Das 20. Jahrhundert durfte sich bereits auf neueste medizinische Errungenschaften und eine nicht geringe Gefängniserfahrung stützen (irgendwer wird vollen Ernstes eine Doktorarbeit darüber verfaßt haben) und demnach auf solchen Überschwang verzichten, zumal besagte Mittel sich bei massierter Anwendung als umständlich erwiesen. Und außerdem …
Und außerdem zeichnet sich ein weiterer Umstand ab: Wie immer sprach Stalin das letzte Wort nicht aus, die Untergebenen hatten es selbst zu finden, während er sich einen füchsischen, schakalischen Durchschlupf zum Rückzug freiließ und das «Vor Erfolgen von Schwindel befallen» schrieb. Schließlich war die planmäßige Peinigung von Millionen in der Menschheitsgeschichte etwas Neues, und es konnte Stalin bei all seiner Macht des Erfolges nicht absolut sicher sein. Bei so großen Mengen hätte der Verlauf des Experiments ein anderer werden können als bei einer geringen Zahl. Unvermutete Explosionen, geologische Verschiebungen oder zumindest eine weltweite Publikmachung mußten einkalkuliert werden. Stalins Gewänder hatten in allen Varianten engelhaft-weiß zu bleiben.
Folglich ist anzunehmen, daß es keinerlei typographisch vervielfältigte Folterverzeichnisse für die Untersuchungsrichter gab. Es lag einfach an jeder einzelnen Untersuchungsabteilung, zum angegebenen Termin dem Tribunal eine vorgegebene Zahl von geständniswilligen Karnickeln zu liefern. Es wurde einfach gesagt (mündlich, aber oft), daß alle Mittel und Wege gut sind, solange sie dem hehren Zwecke dienen; daß sich der Gefängnisarzt tunlichst aus
Weitere Kostenlose Bücher