Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Nadeschda Grekowa, eine Wiederholerin, die sich nach fünfzehn Jahren elender Plackerei in ihrer Lehmhütte ein Woroschilow-Bild an die Wand klebte und fest darauf vertraute, daß er uns ein Wunder bescheren würde. Und wirklich – das Wunder geschah! Die Regierung drehte uns am 27. März 1953 noch einmal eine Nase. Und wessen Unterschrift stand unter dem Beschluß? Woroschilows.
Eigentlich war keine sichtbare vernünftige Begründung dafür zu finden, warum es die gramgebeugten Herrscher just im März 1953 im gramgebeugten Lande für notwendig befanden, die Verbrecher freizulassen, es sei denn, man sucht sie in ihrem jäh erwachten Gefühl für die Vergänglichkeit alles Seins. Wie jedoch der Historiker Kotoschichin bezeugt, war es auch im alten Rußland üblich, am Tage eines Zarenbegräbnisses die Verbrecher freizulassen, worauf übrigens sofort ein gewaltiges Plündern anhob. («Es sind die Moskauer Leut nicht von gottesfürchtigem Schlag, auf der Straße werden Mann und Weib zuhauf ihrer Habe beraubt und zu Tode gebracht.») Geradeso geschah’s auch jetzt. Stalin war begraben, es galt, sich beim Volk einzuschmeicheln, und begründet wurde diese Amnestie mit der erfolgten «Ausmerzung der Kriminalität in unserem Land» (wer sitzt denn überhaupt? dann wär ja niemand freizulassen!). Da man freilich die alten Stalinschen Scheuklappen trug und sklavisch den einmal vorgegebenen Gedankengängen folgte, wurde die Amnestie lediglich den Mordbrennern und dem Diebesgesindel zuteil, für die Achtundfünfziger hieß es: «… bis zu Haftstrafen von höchstens fünf Jahren.» Die Usancen eines gesitteten Staates gewohnt, hätte ein Außenstehender auf den Gedanken verfallen können, daß diese Fünfjahresklausel gut drei Viertel aller Politischen die Freiheit bringen würde. In Wirklichkeit hatten von unsereinem nur ein bis zwei Prozent solch eine kindische Frist abzusitzen. (Dafür aber wurden die Diebe wie Heuschrecken auf die Bürger losgelassen; es brauchte danach viel Zeit und Mühe, ehe die Miliz die amnestierten Unterweltler wieder in die gleiche Koppel zurückgetrieben hatte.)
Interessant, wie sich die Amnestie bei uns niederschlug. Seit langem lebten in unserem Verbannungsrevier just jene Kurzzeitbestraften, die ihre läppischen fünf Jahre beizeiten abgesessen hatten, danach jedoch nicht nach Hause, sondern ohne Beanspruchung des Gerichts in die Verbannung kamen. Viele solche einsamen alten Frauen und Männer traf man in Kok-Terek, Ukrainer, Nowgoroder, stille, friedfertige und unglückliche Menschen. Die Amnestie gab ihnen mächtig Auftrieb, sie warteten auf die Erlaubnis zur Heimkehr. Nach zwei Monaten kam statt dessen der gewohnt-brutale Bescheid: In Anbetracht dessen, daß ihre Verbannung (die zusätzliche, gerichtslose) nicht auf fünf Jahre, sondern auf ewig ausgesprochen worden sei, habe ihre frühere fünfjährige Strafzeit mit dieser Amnestie nicht das geringste zu tun … Eine Tonja Kasatschuk lebte bei uns, die war überhaupt ohne Strafe, war als Freie aus der Ukraine zu ihrem verbannten Mann gekommen und an Ort und Stelle der Einfachheit halber als Zwangsansiedlerin verbucht worden. Nach der Amnestie lief sie in die Kommandantur, sie wolle heim; doch das ginge nicht, erklärte man ihr sehr vernünftig, sie habe ja, anders als ihr Mann, niemals fünf Jahre bekommen, ihre Frist sei nicht präzisiert worden, wie wolle sie demnach die Amnestie in Anspruch nehmen?
Zum Kuckuck mit Drakon, Solon und Justinian samt ihrer Gesetzgebung! …
So hat denn keiner von der Amnestie etwas zu schmecken bekommen. Allein, die Monate vergingen, Berija ward gestürzt, man hängte es nicht an die große Glocke, aber es schlichen sich unmerklich echte Erleichterungen ins Verbannungsland ein. Heimgeschickt wurden jene Fünfjahrbestraften. Die Kinder der Verbannten durften in die nahen Städte ziehen, um dort zu studieren. In der Arbeit wurde unsereinem nicht mehr dauernd unter die Nase gerieben: «Du als Verbannter …» Man befleißigte sich eines sanfteren Tones und schickte sich an, die Verbannten auf bessere Posten zu befördern.
Hingegen traf man in der Kommandantur immer öfter leere Tische an.
«Der Kommandant, der hier saß, wo find ich ihn?» – «Ist nicht mehr bei uns.» Die Reihen lichteten sich, das Personal wurde abgebaut, die Anrede höflicher. Der sakrosankte Meldetag verlor an himmlischer Glorie. «Wer bis Mittag nicht da ist, komm halt das nächstemal!» Den Nationen, bald der einen, bald der
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