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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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schwante, daß das Schicksal jenes Regiments wohl noch von hunderten anderen Umständen abhing? Oder weil ich M-s nie im hochmütigen Glanze gesehen habe, ihn erst elend und gedemütigt kennenlernte? Täglich wechselten wir einen offenen, festen Händedruck – und ich habe es nie als schimpflich empfunden.
    Was kann ein einziger Mensch in seinem Leben nicht alles für Wandlungen durchmachen! Immer wieder ist er ein neuer – für sich und für die anderen! Und einen unter diesen vielen und sehr verschiedenen nehmen wir uns laut Befehl oder Gesetz, aus Lust oder Verblendung, willig und freudig – zum Steinigen vor.
    Doch was, wenn deine Hand – den Stein fallen ließe? … Der du selbst tiefstes Elend erfahren hast, du gewinnst einen neuen Blick. Siehst nun anders die Schuld. Und den Schuldigen, Ihn und dich.
    Auf den vielen Seiten dieses Buches ist schon viele Male Verzeihung ausgesprochen worden. Und man hält mir erstaunt und entrüstet vor: Wo ist die Grenze? Soll man allen verzeihn?
    Ich meine ja nicht – allen. Nur jenen, die am Boden liegen. Solange der Götze auf seiner Kommandohöhe thront und mit herrisch gerunzelter Stirn stumpf und selbstzufrieden unser Leben zuschanden traktiert – reicht mir einen Stein her, möglichst schwer! Einen Balken hochgestemmt, zehn Mann packen zu, und hauruck! Dem Popanz damit in die Seite gefahren!
    Doch sobald er heruntergepurzelt ist und der Schmerz, mit dem er auf die Erde aufschlug, die erste Furche des Verstehens in sein Gesicht gezeichnet hat – laßt eure Steine ungeworfen!
    Er kehrt selber in die Menschheit zurück.
    Verwehrt ihm nicht diesen göttlichen Weg.

    Nach all den anderen, oben beschriebenen Verbannungsorten muß unser Kok-Terek wie überhaupt der ganze Süden Kasachstans und Kirgisiens als Vergünstigung angesehen werden. Man lebte in erschlossenen Siedlungen, will heißen, in solchen, die Wasser besaßen und halbwegs fruchtbaren Boden, um darauf was anzupflanzen (in der Tschu-Ebene und im Kurdai-Bezirk zeichnete er sich sogar durch üppige Fruchtbarkeit aus). Viele landeten in einer Stadt, in Dschambul, Tschikment, Tallass oder gar in Alma-Ata oder Frunse, ihre Rechtlosigkeit unterschied sich nicht fühlbar von den Rechten der übrigen Einwohnerschaft. Die Lebensmittel waren in jenen Städten billig, Arbeit zu finden, fiel einem nicht schwer, insbesondere in den Fabriksiedlungen, da die ortsansässige Bevölkerung herzlich wenig Interesse für Industrie, Handwerk und intellektuelle Berufe aufbrachte. Doch auch draußen auf dem flachen Land wurde nicht jedermann in einen Kolchos gepreßt, und wenn, dann mit einiger Nachsicht. In unserem Kok-Terek wohnten viertausend Menschen, zum Großteil Verbannte, aber nur die kasachischen Viertel gehörten zum Kolchos. Der Rest war entweder in der Traktorenstation untergeschlüpft oder hatte sich sonstwo mehr zum Schein als wegen des Hungerlohns einen Posten ergattert, und was man zum Leben brauchte, gaben einem die hundert Quadratmeter des bewässerten Gemüsegartens, die Kuh, die Schweine und Schafe. Eine Gruppe von Westukrainern, die im Anschluß an die fünfjährige Lagerfrist bei uns als Verwaltungsverbannte angesiedelt wurden und als Bauarbeiter schwer zu schuften hatten, fand das Leben auf dem hiesigen trockenen, ohne Wasser sofort verdörrenden, jedoch kolchosfreien Boden bezeichnenderweise viel ungebundener als das Kolchosleben in der geliebten, blühenden Ukraine, so daß sie sich, als ihre Entlassungspapiere kamen, allesamt entschlossen, für immer dazubleiben.
    Arbeitsfaul war in Kok-Terek auch die Operative Abteilung, eine rettende Nebenerscheinung der gesamtkasachischen Faulheit. Der eine oder andere unter uns wird ein Spitzel gewesen sein, aber wir spürten es nicht, und sie schadeten niemandem.
    Daß sie indes untätig waren und das Regime nachlässiger wurde, lag in der Hauptsache daran, daß die Chruschtschow-Ära angebrochen war. Durch viele Zwischenglieder unterwegs abgeschwächt, kam sie schub-und wellenweise herangerollt.
    Fürs erste mit einem Betrug: der «Woroschilow-Amnestie» (so auf dem Archipel benamst, obgleich während des kollektiven Interregnums erlassen). Stalins Spottamnestie für die Politischen, jene vom 7. Juli 1945, war eine schwache, längst vergessene Lektion gewesen. Genau wie im Lager, schwirrten durch die Verbannung unentwegt allerhand Latrinengerüchte über eine bevorstehende Amnestie. Erstaunlich ist diese Fähigkeit, stur an seinem Glauben festzuhalten! Da war

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