Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
dieser Zug, alles Gute im Gedächtnis zu bewahren. Aber auch das Böse einem nicht zu vergessen.
Wegen seines Verbanntenstatus und der mangelnden Ausbildung konnte M-s in Kok-Terek keine ordentliche Arbeit finden. Er war schon froh, als Laborant in der Schule untergeschlüpft zu sein, und bangte sehr um diesen seinen bislang besten Posten, den er indes nur behalten konnte, solange er vor jedermann scharwenzelte, niemals aufbegehrte, sich allzeit still und unauffällig verhielt. Also schwieg er sich lieber aus, verschanzte sich hinter äußerer Höflichkeit und ließ seine Umwelt nicht mal so einfache Dinge über sich erfahren wie etwa, warum er mit fünfzig eigentlich keinen Beruf hatte. Ich war ihm jedoch irgendwie nähergekommen, nie gab es Streit zwischen uns, dafür viel gegenseitige Unterstützung und Verständnis. Nach langem Zögern rückte er mit der Sprache heraus, und ich erfuhr seine heimliche äußere und innere Geschichte. Sie ist lehrreich.
Vor dem Krieg war er Bezirksparteisekretär in Sch. und wurde nach Kriegsbeginn zum Chef der Chiffrierabteilung einer Division ernannt. Er gehörte immer zu den Hochgestellten, schnödes menschliches Leid blieb ihm fremd. Da begab es sich indes im Jahr 1942, daß ein Regiment ihrer Division durch Verschulden der Chiffrierabteilung nicht rechtzeitig den Rückzugsbefehl zugestellt bekam. Abhilfe tat not, doch wie sie schaffen, wenn obendrein alle Untergebenen des M-s unauffindbar oder gefallen waren? Also schickte der General den M-s persönlich zu den vordersten Linien, in die sich bereits schließende Zange hinein: Den Leuten den Befehl zu bringen, sie zu retten. M-s ritt verstört und in Todesängsten los, unterwegs wurde es so brenzlig, daß er aufzugeben beschloß und nicht einmal sicher war, ob es ihm dadurch gelingen würde, am Leben zu bleiben. Er hielt an, ganz bewußt – er ließ das Regiment im Stich, er verriet es, setzte sich ab, umfing einen Baum (mag sein, daß er sich vor den Granatsplittern dahinter versteckte) und gelobte seinem Gott Jahve, daß er, so er heil davonkam, fortan dem Glauben dienen und aufs genaueste die heiligen Gebote befolgen würde. Die Sache nahm ein glückliches Ende: Das Regiment wird zugrunde gegangen oder in Gefangenschaft geraten sein, aber M-s überlebte, bekam zehn Jahre Lager nach § 58, saß sie ab – und lebte nun mit mir in Kok-Terek. An seinem Gelübde hielt er unerschütterlich fest, nichts war in seinem Hirn, in seinem Herzen vom Parteimitglied übriggeblieben. Nur mit List konnte ihn seine Frau dazu bringen, einen schuppenlosen, unkoscheren Fisch zu essen. Samstags mußte er notgedrungen in den Dienst, bemühte sich aber, dort keine Arbeit anzufassen. Zu Hause befolgte er streng alle jüdischen Vorschriften und betete, nach sowjetischer Unvermeidlichkeit, im geheimen.
Verständlich, daß er diese Geschichte kaum jemandem anvertraute.
Mir scheint sie nicht gar so einfach zu sein. Einfach ist darin nur die Erkenntnis, der man bei uns am allerwenigsten zuzustimmen pflegt: daß der tiefste Strang unseres Lebens – das religiöse und nicht das partei-ideologische Bewußtsein ist.
Wie sollte man hier entscheiden? Nach allen Straf-und Militär-und Ehrgesetzen, nach den patriotischen Gesetzen und nach den kommunistischen – war dieser Mensch des Todes oder der Verachtung würdig: Er hatte um seines eigenen Lebens willen ein ganzes Regiment in den Tod geschickt, ganz zu schweigen davon, daß er in jenem Augenblick nicht genug Haß in sich aufgebracht hatte gegen den furchtbarsten Feind der Juden, den es je gegeben.
Und doch hätte M-s nach irgendwelchen noch höheren Gesetzen ausrufen können: Alle eure Kriege – nehmen sie denn nicht beim Schwachsinn der obersten Politiker ihren Anfang? Ist denn Hitler nicht aus Schwachsinn über Rußland hergefallen, seinem eigenen Schwachsinn, und jenem von Stalin, und jenem vom Chamberlain? Und nun wollt ihr mich in den Tod jagen? Als ob ihr mir das Leben gegeben habt?!
Man wird erwidern: Er (aber auch alle Männer jenes Regiments!) hätte dies vor der Einberufungsstelle erklären müssen, als man ihm die schöne Uniform anzog, nicht erst dort, unter dem Baum. Nun, mit Logik will ich ihn ja gar nicht in Schutz nehmen, die Logik sagt, daß ich ihn hassen müßte oder verachten, Abscheu empfinden bei seinem Händedruck.
Doch nichts dergleichen empfand ich für ihn! Ob darum, weil ich nicht zu jenem Regiment gehörte und mir dessen Lage nicht gegenwärtig war? Oder weil mir
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