Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
wenn auch nicht «ewig», so doch gut zwanzig Jahre. (Daß die große Freiheit früher anbrechen könnte, glaubte ich nicht – und hab mich darin nicht gar so stark geirrt.) Es zog mich, scheint’s, schon nicht mehr fort – obwohl mein Herz jedesmal stillstand, wenn mir eine Karte Mittelrußlands vor Augen kam. Die Welt, das war für mich nichts Äußeres, nichts Lockendes, sondern das Erlebte, ich trug sie in mir, die Welt, und es blieb mir nur noch – sie zu beschreiben.
Ich war ausgefüllt.
Radischtschews Freund Kutusow schrieb ihm in die Verbannung: «Bitter kommt’s mich an, mein Freund, es dir zu schreiben, aber … deine Lage ist nicht ohne Vorzüge. Von allen Menschen abgeschieden, allen uns blendenden Gegenständen entzogen, kannst du um so genüßlicher wandeln – in deinem Inneren drin; kaltblütig kannst du dich selber betrachten und folglich mit weniger Vorurteilen die Dinge bewerten lernen, auf die du früher durch den Schleier des Ehrgeizes und der weltlichen Nichtigkeiten geblickt hast. Mag sein, daß dir vieles in völlig neuer Gestalt erscheint.»
Das trifft genau. Und weil ich diese erworbene Klarsicht schätzte, schätzte ich durchaus bewußt die Verbannung.
Was dies anlangte, sie brodelte bereits, und die Erregung wuchs. Die Kommandantur ging nachgerade zärtlich mit uns um und schrumpfte weiter zusammen. Für die Flucht setzte es nur mehr fünf Jahre Lager, doch auch damit hielten sie zurück. Die Nationalitäten wurden eine nach der anderen aus der kommandantischen Obhut entlassen und durften bald überhaupt heimwärts ziehen. Freude und Hoffnung brachen unruhestiftend in unser friedliches Verbanntendasein ein.
Über Nacht schlich sich ungeahnt-unerwartet eine weitere Amnestie heran, die «Adenauer-Amnestie» vom September 1955. Eine Weile zuvor, während seines Moskaubesuchs, hatte sich Adenauer bei Chruschtschow die Freilassung aller Deutschen ausbedungen. Nikita gab Weisung, gesagt, getan – doch halt, wie reimt sich das zusammen? Die Deutschen wurden frei, und ihre russischen Handlanger sollten zwanzig Jahre absitzen? Andrerseits waren’s freilich lauter Polizais, Starosten, Wlassow-Leute, die Sache groß aufzubauschen, schien auch nicht opportun. Man hielt sich lieber an das allgültige Gesetz unserer Nachrichtenvermittlung: Über Nichtiges blas ins Horn, über Wichtiges verlier ein Wörtchen en passant. Demnach wurde die seit Oktober 1917 bedeutendste politische Amnestie an einem schlichten Nicht-Feiertag, dem 9. September, gänzlich unfeierlich erlassen und in einer einzigen Zeitung, der Iswestija, publikgemacht, auch dies irgendwo im Inneren des Blattes, ohne den winzigsten Kommentar, ohne Jubelartikel dazu.
Wie soll man da Ruhe bewahren? Ich las: «Über die Amnestie für Personen, die mit den Deutschen kollaborierten.» Wie denn das? Und für mich? Anscheinend hat’s mit mir nichts zu tun, hab ja in einem fort in der Roten Armee gedient. Na, zum Kuckuck mit euch, was reg ich mich auf?! Da schrieb mir auch mein Freund Lew Kopelew aus Moskau, er habe sich, die Zeitung schwenkend, bei der Moskauer Miliz die zeitweilige Aufenthaltsbewilligung erkämpft. Bald lud man ihn jedoch vor: «Wollen Sie uns einen Bären aufbinden? Sie sind ja gar kein Kollaborateur!» – «Nein.» – «Haben in der Sowjetarmee gedient?» – «Ja.» – «Na also! Vierundzwanzig Stunden – und daß Sie sich danach in Moskau nicht mehr blicken lassen!» Er blieb natürlich und: «Gewiß, nachts nach zehn, da wird mir schon mulmig, bei jedem Klingeln an der Tür – jetzt ist’s aus, die holen mich!»
Ich freute mich: Ach, wie gut es mir doch ging! Mal schnell die Manuskripte versteckt (ich versteckte sie an jedem Abend) – und ich schlief wie ein Engel.
Aus meiner reinen Wüste malte ich mir die wimmelnde, rastlose, eitle Hauptstadt aus – und verspürte nicht die geringste Sehnsucht nach ihr.
Doch die Moskauer Freunde ließen nicht locker: «Was fällt dir ein, dich dort zu vergraben? Verlange die Urteilsrevision! Das gibt’s doch!»
Wozu? … Hier kann ich eine geschlagene Stunde zusehen, wie die Ameisen durch ein Loch, das sie sich in die Schilfwand meines Hauses gebohrt, ihre Lasten schleppen, ohne Brigadiere, ohne Aufseher und Lagerpunkt-Chefs – sie tragen Schalen von Sonnenblumenkernen für den Winter zusammen. Dann kommt ein Morgen, an dem sie sich nicht blicken lassen, obwohl vor dem Haus Proviant auf sie wartet. Sie haben, sieh mal an, schon lange erraten, sie wissen, daß es
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