Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
angenommen sogar, er hätte auf allen Linien gesiegt – das Regime, das ganze Symstem konnte dadurch nicht verbessert werden. Ein verschwommener heller Tupfen, ein leichtes Schimmern auf begrenzter Fläche, das wäre alles gewesen, ehe sich wieder Grau in Grau darüber breitete. Sein ganzer möglicher Sieg wog die neue Verhaftung nicht auf, mit der er dafür hätte bezahlen können (lediglich Chruschtschows Regierungsantritt bewahrte Mitrovič davor). Hoffnungslos war sein Kampf, jedoch menschlich sein Aufbegehren gegen das Unrecht, kost es gleich den eigenen Untergang! Sein Kampf trug die Niederlage in sich, aber nutzlos konnte man ihn gewiß nicht nennen. Wenn wir bloß alle so unvernünftig wären, wenn wir bloß das Miesmachen ließen: «Wozu das, es führt zu nichts!» – dann wäre unser Land nicht, wie es ist! Mitrovič aber war kein Bürger, er war ein Verbannter, dennoch jagte das Aufblitzen seiner Brille der Bezirksobrigkeit Angst und Schrecken ein.
Doch Angst hin, Angst her, sobald der hehre Wahltag anbrach und man uns zum Urnengang für unsere geliebte Volksmacht rief, waren die Unterschiede zwischen uns dahin, da trotteten wir, der rührige Kämpfer Mitrovič (was war demnach sein Kampf wert?), ich, der Ausweichende, und der noch Verkapptere, jedoch nach außen hin von uns allen Nachgiebigste, G. S. M-s, den qualvollen Abscheu verbergend, im Verein zu dieser festlichen Verhöhnung. Ihre Stimme abzugeben, war fast allen Verbannten erlaubt, so niedrig standen die Wahlen im Wert, ja mehr: auch Strafverschickte ohne Bürgerrechte entdeckten ihren Namen unvermutet in den Listen und wurden gar noch angetrieben, sich mit dem Wählen zu sputen. Bei uns in Kok-Terek hat man so was wie Wahlzellen nicht gekannt, da stand abseits eine Kabine mit weit zurückgezogenen Vorhängen, aber reinwagen durfte man sich trotzdem nicht, es war unschicklich, auch nur einen Schritt in die Richtung zu tun. Die Wahlen erschöpften sich darin, daß man den Wahlzettel möglichst rasch zur Urne trug und darin verschwinden ließ. Wenn einer stehenblieb und die Namen der Kandidaten aufmerksam durchlas, sah es bereits verdächtig aus, so als ob die Parteiorgane nicht wüßten, wen sie aufzustellen hatten. Was gab’s da viel zu lesen? … Nach getaner Bürgerpflicht stand jedermann das Recht zu, sich mit Wodka vollaufen zu lassen, zu welchem Behufe vor jedem Wahltag die Gehälter oder Vorschüsse darauf ausgezahlt wurden. Man promenierte weihevoll grüßend und sonntäglich herausgeputzt durch die Straßen und beglückwünschte einander (die Verbannten nicht ausgenommen!) zu wunder was für einem Feiertag …
Oh, wie oft wird unsereins noch im Guten ans Lager zurückdenken, wo einem die Wahlen allesamt vom Leibe gehalten wurden!
Einst wählte Kok-Terek einen Volksrichter, der war Kasache und kam, versteht sich, einstimmig durch. Wie üblich beglückwünschte man einander zum Festtag. Allerdings folgte dem Richter aus jenem Bezirk, in dem er früher Recht sprach (ebenfalls einstimmig gewählt), nach einigen Monaten eine Strafakte nach, und es stellte sich heraus, daß er sich auch bei uns schon ein beträchtliches Vermögen an privaten Schmiergeldern erhamstert hatte. So mußte er denn wehen Herzens abgesetzt werden, in Kok-Terek wurden Nachwahlen durchgeführt. Der Kandidat war abermals ein zugereister, ortsfremder Kasache. Wieder warf sich alles in Sonntagsstaat und eilte frühmorgens zu den Urnen, das Resultat war wieder einstimmig, und die gleichen glückstrahlenden Gesichter, kein Funken von Humor darauf, gratulierten einander auf der Straße zum frohen Fest …
Im Katorga-Lager haben wir über den ganzen Jahrmarktsaufzug zumindest offen lachen können, doch als Verbannter halte unsereins seine Zunge lieber im Zaum: Man lebt als Freier und legt sich von der freien Welt zuallererst das Schlechteste zu – die Verschlossenheit. Zu den wenigen, mit denen ich mich über derlei Themen unterhielt, gehörte Grigorij Samoilowitsch M-s.
Er kam aus Dscheskasgan zu uns, zudem völlig blank, sein Geld war irgendwo unterwegs hängengeblieben. Die Kommandantur ließ sich darob freilich keine grauen Haare wachsen, man strich ihn einfach von den Verköstigungslisten und schubste ihn auf die Straßen von Kok-Terek: Stiehl oder stirb, uns ist’s egal! In jenen Tagen lieh ich ihm einen Zehner und erwarb mir für immer seine Dankbarkeit, lange noch sprach er mir davon, wie ich ihm damals aus der Patsche geholfen hatte. Das saß fest in ihm drin,
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