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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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anderen, wurden irgendwelche Rechte wiedergegeben. Im Bezirk durfte man frei herumfahren, mit den Reiseerlaubnissen in ein andres Gebiet waren sie freizügiger als vordem. Die Gerüchte verdichteten sich: «Bald geht es nach Hause!» In der Tat – schon durften die Turkmenen ihre Sachen packen (ehemalige Kriegsgefangene der Deutschen, dafür verbannt). Dann – die Kurden. Häuser wurden zum Kauf angeboten, die Preise kamen ins Rollen.
    Einige greise Verwaltungsverbannte wurden heimgeschickt, hatten irgendwo in Moskau Fürsprecher gefunden, und sieh: Man rehabilitierte sie. Die Verbanntenkolonie fieberte vor Erregung, heiß und schwindelig wurde einem: Wird’s auch uns erfassen? Ist’s möglich, auch uns …?
    Daß ich nicht lache! Als ob dieses Regime es in sich hatte, sanftmütiger zu werden?! Wenn schon an nichts glauben, dann dabei aufs Ganze gehen. Das hat mich das Lager gelehrt. Hab ja auch kein Verlangen gehabt nach Glauben: Weder Verwandte noch sonst nahe Menschen warteten auf mich im großen Mutterland. Hier in der Verbannung war ich indes fast glücklich. Ja, wozu viel reden, es ist mir, scheint’s, noch nie so gut gegangen.
    Allerdings war mir im ersten Jahr die tödliche Krankheit an die Gurgel gefahren, gleichsam im natürlichen Bündnis mit den Kerkermeistern. Ein ganzes Jahr lang konnte in Kok-Terek niemand auch nur feststellen, was für eine Krankheit das war. Wenn ich in die Klasse trat, hielt ich mich nur mit Mühe auf den Beinen, ich konnte kaum mehr schlafen, nur wenig essen. Alles, was ich früher im Lager geschrieben und bislang im Gedächtnis aufbewahrte, dazu das Neue, in der Verbannung Entstandene, mußte ich schleunigst niederschreiben und im Garten vergraben. (An diese Nacht vor der Abreise in die Klinik nach Taschkent, die letzte Nacht des Jahres 1953, erinnere ich mich gut: Beendet schien mein Leben und meine ganze Literatur. Recht wenig war’s.)
    Da ließ jedoch die Krankheit von mir ab. Und es begannen die zwei Jahre meiner tatsächlich Schönen Verbannung, nur dadurch getrübt, nur durch das eine Opfer beschwert, daß ich nicht zu heiraten wagte: Die Frau, der ich meine Einsamkeit, mein Schreiben, meine geheimen Verstecke anvertrauen konnte – diese Frau gab es nicht. Und doch lebte ich all die Tage in einer unverändert seligen Hochgestimmtheit, von Unfreiheit nichts bemerkend. In der Schule gab ich so viele Stunden, wie ich wollte, in der Vormittags-, in der Nachmittagsschicht, ein glücklicher Schauer durchlief mich jedesmal in der Klasse, die Stunden waren mir keine Last, nie wurde mir die Zeit zu lang. Und an jedem Tag blieb eine Stunde fürs Schreiben übrig und wiederum brauchte es keiner besonderen Anstrengung, um sich in die richtige Stimmung zu bringen: Die Zeilen drängten von selbst aus der Feder. Sonntags aber schrieb ich von früh bis spät – den ganzen Sonntag durch, sofern man uns nicht Kolchosrüben buddeln schickte. Einen Roman begann ich dort (der zehn Jahre später beschlagnahmt wurde), alles in allem genug Arbeit auf viele Jahre hinaus. Und was das Drucken anging, das war ohnehin erst nach meinem Tode fällig.
    Nun, da ich Geld verdiente, kaufte ich mir ein eigenes Lehmziegelhaus, bestellte einen festen Tisch zum Schreiben, wohingegen mir zum Schlafen die bewährten leeren Kisten weiterdienten. Außerdem erstand ich einen Radioapparat mit Kurzwelle, da verhängte ich nun an den Abenden die Fenster, preßte das Ohr an den Kasten und versuchte, durch den Schwall der Störsender hindurch die uns verbotene, ersehnte Information aufzuschnappen und, was nicht zu hören war, mit Hilfe der Logik zu ergänzen.
    Wir hatten das jahrzehntelange Lügengewäsch gründlich satt, wir waren nach jedem Schnipsel Wahrheit ausgehungert, auch wenn’s eine zerstückelte Wahrheit war – ansonsten aber wog diese Mühe die verlorene Zeit nicht auf: Uns Zöglingen des Archipels hatte der infantile Westen weder an Weisheit noch an Standhaftigkeit etwas zu bieten.
    Mein Häuschen stand am östlichen Rande der Siedlung. Hinter dem Zaun war ein Wassergraben, die Steppe und an jedem Morgen der Sonnenaufgang. Sobald nur ein leiser Wind aus der Steppe herüberwehte, konnten sich die Lungen nicht sattatmen daran. In der Dämmerung und in den Nächten, den pechschwarzen, den mondhellen, wandelte ich einsam umher und atmete verdattert. Auf hundert Meter stand kein Haus in der Nähe, weder rechts, noch links, noch hinten.
    Ich hatte mich durchaus damit abgefunden: Hier würde ich leben, na,

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