Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Achtundfünfzigern sprechen), schwerlich ein Fünftel, ’s wär schon schön, wenn ein Achtel, in den Genuß der Haftentlassung gekommen.
Und dann – die Befreiung! Wer wüßte nichts darüber? Die ist in der Weltliteratur so oft beschrieben, im Kino so oft vorgeführt worden: Der Kerker öffnet sich, ein sonniger Tag, eine jubelnde Menge, die Umarmungen der Verwandten.
Verwünscht ist jedoch die «Entlassung» unter dem freudlosen Himmel des Archipels, und noch böser wird er sich verhängen, sobald du draußen in Freiheit bist.
Einzig durch ihre Dauer, durch die Behäbigkeit ihrer kalligraphisch langgezogenen Buchstaben unterscheidet sich die Entlassung vom Blitz der Verhaftung. (Nun hat es das Gesetz nicht mehr eilig.) In allem anderen ist die Entlassung genauso wie eine Verhaftung, ein genauso strafender Übergang von einem Zustand in den andern. Zermalmt ist wie damals deine Brust, das ganze Gefüge deines Lebens, deiner Begriffe – und nichts wird dir statt dessen versprochen.
Denn in unserem Lande muß jeder Enthaftung irgendwo eine Verhaftung folgen.
Zwischen zwei Verhaftungen – das ist’s, als was sich eine Entlassung in allen vierzig Vorchruschtschowschen Jahren entpuppte.
Ein Rettungsring, zwischen zwei Inseln hingeworfen: Strampel dich ab von Zone zu Zone! …
Vom Weckruf bis zum Zapfenstreich – das ist genau die Frist. Von einer Zone bis zur andren – das ist exakt die Befreiung.
Danach kannst du dich in keiner Stadt niederlassen, nirgendwo zu einem guten Posten gelangen. Im Lager hast du immerhin den Kanten Brot bekommen, hier sitzt du ohne herum.
Und dennoch – die trügerische Freiheit des Überall-hinfahren-Dürfens …
Nicht auf freien Fuß sind diese unglücklichen Menschen gesetzt worden, sondern, so wär es richtiger zu nennen – der Verbannung verlustig gegangen. Der wohltätigen, fatalen Verbannung entzogen, bringen sie es nicht über sich, in die Krasnojarsker Taiga oder in die kasachische Wüste zu fahren, wo ringsum von ihresgleichen die Menge, lauter Sek-Veteranen leben. Nein, sie fahren ins Dickicht der niedergeknüppelten freien Welt; dort wendet sich alles von ihnen ab und bald sind sie als Kandidaten für eine neue Sitzrunde markiert.
Ein Teufelskreis: ohne Aufenthaltsbewilligung keine Arbeit, ohne Arbeit keine Erlaubnis zum Bleiben. Auch Brotmarken gibt es für einen Stellungslosen nicht. Jene Vorschrift, wonach das MWD verpflichtet war, ihnen Arbeit zu beschaffen, war den ehemaligen Seki unbekannt. Und wenn’s einer auch wußte, hinzugehen fehlte ihm der Mut: Am Ende lochen sie dich noch ein …
An der Freiheit gerochen – vor Kummer gebrochen …
Und an der Kolyma gab’s ja vorweg keine Auswahl, die Leute wurden einfach dabehalten. Bei der Entlassung hatte der Sek umgehend die Verpflichtung mitzuunterschreiben, auch künftighin dem Dalstroi zu dienen. (Die Genehmigung zur Ausreise «aufs Festland» war schwerer zu erlangen als die Entlassung selbst.)
So wie ein und dieselbe weitverbreitete Krankheit bei verschiedenen Menschen auf verschiedene Weise verläuft, so wird von uns auch die Entlassung, wenn man sich’s näher besieht, auf sehr unterschiedliche Weise erlebt und empfunden.
Auch – körperlich. Die einen haben zuviel Kraft aufgeboten, um ihre Lagerfrist zu überstehen. Sie hielten sich, als wären sie aus Stahl; zehn Jahre haben sie sich, ohne auch nur einen Bruchteil von dem zu bekommen, was der Körper braucht, abgeschleppt und abgerackert; haben halbbekleidet Steine gehauen im Frost – und sich keinmal erkältet. Nun aber war die Haftzeit um, der äußere übermenschliche Druck ließ jäh nach, auch die innere Spannung lockerte sich. Auf solche Menschen wirkt der Druckabfall verheerend. Der Riese Tschulpenjow, der sich während der sieben Jahre Waldarbeit niemals auch nur einen Schnupfen holte, war draußen ein von vielen Krankheiten geplagter Mann.
Wie’s in alten Zeiten hieß: Die schlimmen Tage durchgestanden, bei voller Schüssel zugrunde gegangen. Dem einen fielen übers Jahr alle Zähne aus. Der andre war mit einemmal ein Greis. Der dritte schleppte sich mit Mühe nach Hause, verfiel, verwelkte und starb.
Andere wieder rappelten sich erst nach der Befreiung auf. Gewannen ihre Jugend und Spannkraft zurück. Plötzlich erkennt man, wie leicht es sich in Freiheit leben läßt. Dort, auf dem Archipel, herrschen andere Gravitationsgesetze, dort stapfst du wie auf Elefantenbeinen umher, hier wieselst du mit Leichtigkeit dahin. Was will
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