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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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den freien Gimpeln nicht alles unlösbar und quälend erscheinen? Wir brauchen nur mit der Zunge zu schnalzen, und schon ist die Sache im Lot. Denn wir besitzen einen flotten Maßstab: «Früher war’s schlimmer!» Und damit ist gesagt, daß es uns heute rundweg gutgeht. Und wir werden’s nicht satt, allemal zu wiederholen: Früher war’s schlimmer! Früher war’s schlimmer!
    Es gibt jedoch noch etwas, was eindeutiger als alles andere das neue Schicksal eines Menschen prägt: jenen seelischen Umschwung, den er beim Schritt in die Freiheit erlebt hat. Dieser Umschwung offenbart sich auf vielerlei Art. Erst an der Schwelle der Lagerwache steigt in dir das Gefühl hoch, daß du die Heimat Katorga zurückläßt. Sie ist die Geburtsstätte deines Geistes, und ein inniges Stück deiner Seele bleibt für immer in ihr zurück – während deine Beine nach irgendwohin in die stumme, teilnahmslose Weite des freien Draußen traben.
    Im Lager werden menschliche Charaktere offenbar, nicht minder jedoch bei der Entlassung! Hier, wie Vera Alexejewna Kornejewa, der wir in diesem Buch bereits begegnet sind, im Jahr 1951 vom Osob-Lag Abschied nahm: «Da schlossen sich hinter mir die fünf Meter hohen Tore, und ich wollte es selber nicht glauben – aber ich weinte, war frei und weinte. Worüber? … Mir war, als hätte ich das Teuerste und Liebste aus dem Herzen gerissen, meine Kameraden in der Not. Das Tor schloß sich – und es war aus. Niemals werde ich diese Menschen wiedersehen, nirgendwann eine Nachricht von ihnen bekommen. Als wär ich von ihnen gegangen ins Jenseits …»
    Ins Jenseits! … Die Entlassung als Spielart des Todes. Sind wir denn frei? Gestorben sind wir für irgendein vollkommen neues, jenseitiges Leben. Ein etwas trügerisches Leben. In dem wir vorsichtig die Dinge abtasten, sie zu erkennen bemüht sind.
    Dieses war hingegen – eine gestohlene Befreiung, keine echte. Und wer es so empfand, der beeilte sich, mit dem Stückchen stibitzter Freiheit in die Einsamkeit zu entfliehen. Noch im Lager «hat sich fast jeder von uns, meine nächsten Kameraden und ich, darauf festgelegt, nicht in die Städte zu ziehen, wenn wir mit Gottes Hilfe lebend rauskommen, und nicht mal in ein Dorf, sondern irgendwohin in die Wälder. Als Förster malten wir uns das Leben aus, als Waldhüter, schließlich als Hirten, nur weitab von den Menschen, von der Politik, von dieser ganzen vergänglichen Welt.» (W. W. Pospelow)
    In der ersten Zeit nach dem Lager mied Avenir Borissow die menschliche Gesellschaft, zog sich in die Natur zurück. «Ich war bereit, jede Birke, jede Pappel zu umarmen und zu küssen. Das Rascheln des welkenden Laubs auf der Erde (ich wurde im Herbst entlassen) war für mich wie Musik, Tränen stiegen mir in die Augen. Ich scherte mich nicht drum, daß ich mich von einem halben Kilo Brot ernähren mußte – dafür durfte ich stundenlang der Stille lauschen und dazu noch Bücher lesen. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand, damit schien es draußen keine Schwierigkeiten zu geben, ein Tag verflog wie eine Stunde, der Lebensdurst war nicht zu stillen. Wenn es ein Glück auf Erden überhaupt gibt, dann widerfährt es bestimmt jedem Sek in seinem ersten Jahr in Freiheit!»
    Derlei Menschen wollen lange nichts besitzen: Sie haben nicht vergessen, daß Besitz leicht verlorengeht; ein Funken, und er steht in Flammen. Sie verzichten fast abergläubisch auf neue Sachen, tragen das Alte zuschanden, lassen Kaputtes kaputt. Einer meiner Freunde hat ein Mobiliar, das ist nicht zum Draufsitzen, nicht zum Dranlehnen, jedes Stück wackelt. «So leben wir halt», meinen die Eheleute lachend, «von Zone zu Zone.» (Seine Frau hat ebenfalls gesessen.)
    Allein, die Menschen sind verschieden. Drum haben viele den Übertritt in die Freiheit ganz anders empfunden (besonders zu jener Zeit, da die Tscheka-GB die Zügel scheinbar etwas lockrer ließ): Hurra! Ich bin frei! Jetzt gilt ein einziges Gebot: Nie wieder reinzugeraten! Jetzt heißt es aufzuholen, nachzuholen das Versäumte!
    Seit zwei Jahrhunderten disputiert Europa über die Gleichheit – aber wie anders ist jeder von uns! Wie verschieden sind die Furchen, die das Leben in unsere Seelen schnitt! – Elf Jahre lang nichts zu vergessen – und alles zu vergessen über Nacht …
    Zum Jahrestag meiner Befreiung beschere ich mir jedesmal einen «Sek-Tag»: Schneide mir frühmorgens sechshundertfünfzig Gramm Brot ab, gebe zwei Stück Zucker dazu und ein Glas abgekochtes Wasser.

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