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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Zu Mittag bitte ich die Meinen, mir eine Balanda zu kochen und ein paar Löffel dünnen Brei. Und sieh, wie schnell ich zu meiner alten Form wiederfinde: Am Ende des Tages klaube ich bereits die Brosamen vom Tisch und schlecke die Schüssel aus. Lebendig regen sich in mir die alten Gefühle!
    Außerdem habe ich die Lappen mit meiner draufgeschriebenen Lagernummer mitgenommen, die bewahre ich auf. Ob nur ich allein? Wie ein Heiligtum wird man sie Ihnen bald in diesem Haus, bald in jenem zeigen.
    Da und dort kommen frühere Sek-Kameraden einmal im Jahr zu einem Treffen zusammen, man trinkt, man erinnert sich. «Und seltsam», sagt W. P. Golizyn, «da tritt aus der Vergangenheit nicht nur Düsteres und Qualvolles hervor, an vieles denkt man mit einem warmen, guten Gefühl zurück.»
    Auch dies eine Eigenschaft des Menschen! Nicht die schlechteste zudem!
    «Stellen sie sich vor», teilte mir begeistert W. L. Ginsburg mit, «bin ein Sek gewesen und bekam nun einen Paß der Serie SK – mit unseren Buchstaben – ausgestellt!»
    Du liest es, und es wird dir warm ums Herz. Nein, ehrlich, wie sehr doch die Briefe ehemaliger Seki gegen die vielen anderen abstechen! Wie ungewöhnlich ist ihre Lebenskraft! Die Klarheit der Ziele – und welch ein Schaffensdrang mitunter! Wenn man heutzutage einen Brief bekommt, einen wirklich optimistischen, ohne Gejammer, dann stammt er ganz gewiß von einem früheren Sek. An alles auf der Welt gewöhnt, lassen sie sich durch nichts aus der Fassung bringen.
    Ich bin stolz, diesem mächtigen Stamm anzugehören! Wir sind kein Stamm gewesen – man hat uns dazu gemacht! Hat uns zusammengeschweißt, wie wir es selber, die wir durch die Dämmerung und Uneinigkeit tappten, in der jedermann den anderen fürchtet, niemals hätten zustande bringen können. Die Parteitreuen und die Spitzel schieden in der Freiheit draußen irgendwie von selbst aus unsren Reihen. Wir brauchen keine Absprachen, um einander zu helfen. Wir brauchen einander nicht mehr auf die Probe zu stellen. Eine Begegnung, ein Blick, zwei Worte – was gäbe es noch zu erklären? Wir sind bereit, einander beizustehen. Unsereins hat überall Kameraden. Und es sind unser Millionen!

    Außerdem stehen den gewesenen Seki draußen in der freien Welt – Begegnungen bevor. Den Vätern – mit den Söhnen. Den Männern – mit den Frauen. Und es kommt dabei gar selten etwas Gutes heraus. In den zehn, fünfzehn Jahren, die sie ohne uns gewesen, konnten die Söhne nicht geworden sein, was wir uns von ihnen erhofft, manchmal sind sie einfach Fremde, manchmal auch Feinde. Auch von den Frauen werden nur wenige für das treue Warten belohnt; so lange hat man getrennt gelebt, ein gänzlich andrer ist der Mensch geworden, nur der Namen der alte geblieben. Zu verschieden ist seine und ihre Lebenserfahrung – und man findet nicht mehr zusammen.
    Filme und Romane wären daraus zu machen, aber in dieses Buch geht dieser Stoff nicht mehr rein.

Siebenter Teil
    Nach Stalin
«… und taten auch nicht Buße für ihre Morde.»
Apokalypse 9,21

1
Blick über die Schulter
    Natürlich verloren wir nie die Hoffnung, daß die Welt einmal von uns erfahren würde, so wie sie früher oder später über alles in der Geschichte die Wahrheit erfährt. Doch es sah so aus, als würde es erst spät dazu kommen – wenn die meisten von uns schon tot sind und wenn sich die Dinge völlig verändert haben. Auch ich betrachtete mich nur als Chronisten des Archipels, schrieb und schrieb und rechnete kaum damit, mein Werk gedruckt zu sehen.
    Der Gang der Geschichte verblüfft alle, auch die Weitblickendsten, immer wieder durch seine überraschenden Wendungen. Plötzlich, unvorhersehbar und ohne sichtbare Ursache erbebte alles und geriet in Bewegung, der Abgrund des Lebens schien sich für kurze Zeit zu öffnen – und zwei, drei Brieftauben der Wahrheit entflatterten ihm, ehe sich der Spalt wieder schloß.
    Wie viele meiner Vorgänger haben ihre Botschaft nicht vollendet, haben sie nicht hinübergerettet, sind selbst auf halbem Weg liegengeblieben! Mir ist das Glück beschieden gewesen, durch diesen Spalt in der stählernen Wand die erste Handvoll Wahrheit der Welt darzureichen.
    Und wie Materie, die in Antimaterie getaucht wird, explodierte sie im selben Augenblick!
    Sie explodierte und bewirkte eine Explosion von Briefen – das war zu erwarten gewesen. Aber auch eine Explosion von Zeitungsartikeln, in denen mit Widerwillen, unterdrücktem Haß und Zähneknirschen offizielles

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