Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Lob gespendet wurde, bis zum faden Überdruß.
Als die ehemaligen Seki aus dem Posaunengeschmetter sämtlicher Zeitungen erfuhren, daß eine Novelle über das Lagerleben erschienen war und von den Zeitungsfritzen überschwenglich gelobt wurde, war die einmütige Reaktion: «Wieder Schwindel! Jetzt lügen sie schon auf diese Tour.» Daß es unseren Zeitungen einfällt, mit ihrer üblichen Maßlosigkeit plötzlich die Wahrheit zu feiern – das konnte man sich beim besten Willen nicht vorstellen! Manche wollten meine Novelle nicht einmal in die Hand nehmen.
Doch als sie sie lasen, ging gleichsam ein Aufstöhnen durch das Land, ein Aufstöhnen, in dem Freude und Schmerz klangen. Und ein Strom von Briefen setzte ein.
Diese Briefe habe ich aufbewahrt. Zu selten ist der Fall, daß meine Landsleute Gelegenheit haben, zu gesellschaftlichen Fragen Stellung zu nehmen, noch dazu ehemalige Häftlinge. Die schon so oft enttäuscht, so oft betrogen worden waren – sie glaubten, daß nun doch die Ära der Wahrheit angebrochen sei, daß man freimütig sprechen und schreiben könne!
Und wurden natürlich wieder enttäuscht …
Die Wahrheit ist immer etwas schüchtern, sie verstummt vor der frechen Aggressivität der Lüge.
Die lange Unterdrückung des freien Informationsaustausches in unserem Land läßt einen Abgrund des Nichtverstehens zwischen ganzen Bevölkerungsgruppen, zwischen Millionen und Millionen aufbrechen.
Wir hören auf, ein geschlossenes Volk zu sein, denn wir sprechen tatsächlich bereits verschiedene Sprachen.
Dennoch ist der Durchbruch gelungen! Wie massiv sie auch war, wie sicher sie auch schien, die für alle Zeit geschaffene Mauer der Lüge – auf einmal klaffte eine Bresche in ihr, und es drang Information durch. Gestern noch hatte es bei uns keine Lager und keinen Archipel gegeben – heute erfuhr es das ganze Volk und die ganze Welt: Straflager! Noch dazu faschistische!
Als Chruschtschow, eine Träne im Auge, die Einwilligung zum Druck des Iwan Denissowitsch gab, tat er es in der festen Überzeugung, daß die Lager der Stalinzeit gemeint seien, daß es unter ihm solche Lager nicht gebe.
So war ich überrascht, als ein dritter Strom von Briefen einsetzte, als die heutigen Seki mir zu schreiben begannen. Obwohl ihre Briefe am ehesten zu erwarten gewesen waren.
Diese Briefe – abgegriffene, mit stumpfem Bleistift beschriebene Zettel, in zufällig gefundene Kuverts gesteckt, meist von Freien adressiert, also «hinten herum» abgeschickt – brachten mir die Antwort, die Erwiderungen, ja, auch die Empörung des heutigen Archipels.
Aus diesen Briefen tönte mir ebenfalls ein einstimmiger Ruf entgegen. Es war der Ruf: «Und wir!!??»
Und die Seki heulten auf: Was heißt, wird sich nicht wiederholen, wenn wir noch immer sitzen, unter denselben Bedingungen?!
«Seit der Zeit Iwan Denissowitschs hat sich nichts geändert», schrieben sie mir aus verschiedenen Lagern.
«Der Sek liest Ihr Buch und stellt mit Bitterkeit fest, daß alles gleichgeblieben ist.»
«Was soll sich geändert haben, wenn alle unter Stalin erlassenen Fünfundzwanziger-Paragraphen weiter in Kraft sind?»
Und nach all diesen Briefen erkannte ich, der ich mich als Held gefühlt hatte, daß ich zutiefst schuldig war. Innerhalb von zehn Jahren hatte ich das Gefühl für die lebendige Realität des Archipels verloren.
Für sie , für die heutigen Seki war mein Buch wertlos. Wenn es ohne Fortsetzung bleibt, war meine Wahrheit wertlos, wenn nicht auch über sie die Wahrheit gesagt wird. Und gesagt muß sie werden, damit die Dinge sich ändern!
In einer Erklärung der sowjetischen Regierung vom Dezember 1964 heißt es: «Die diese ungeheuerlichen Verbrechen begangen haben, dürfen auf keinen Fall und unter keinen Umständen der gerechten Strafe entgehen … Die Freveltaten der faschistischen Mörder, die die Vernichtung ganzer Völker anstrebten, sind mit nichts zu vergleichen.»
Das war gegen die Anwendung der Verjährungsfrist auf Naziverbrechen in der Deutschen Bundesrepublik gerichtet.
Nur die eigenen Leute zu richten hat man keine Lust, selbst dann, wenn sie «die Vernichtung ganzer Völker anstrebten».
Nein, niemand wird sich verantworten müssen. Kein Fall wird untersucht werden.
Und in den Archiven sichtet man in Ruhe die Dokumente und vernichtet alles, was überflüssig ist: die Erschießungslisten, die Einweisungen in die SchIsos und BURs, die Unterlagen über die Lagerverfahren, die Spitzelberichte, überflüssige
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