Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Verhaftungen und Prozesse von 1936–38 in ihren Einzelheiten vornimmt, dann ist es nicht Stalin mit seinen Helfershelfern, der den größten Abscheu in uns erweckt, sondern es sind die untertänig-widerlichen Angeklagten, eklig sind sie in ihrer seelischen Niedrigkeit – zumal nach dem früheren Stolz, nach der früheren Unversöhnlichkeit.
… Wie also? Und was? Was kann dich standhalten lassen, der du Schmerzen empfindest und schwach bist und unvorbereitet und voll lebendiger Zuneigungen?
Was braucht einer, um stärker zu sein als der Verhörende mitsamt seiner ganzen Mausefalle?
Laß, wenn du über die Schwelle des Gefängnisses trittst, deine Angst um das vergangene warme Leben zurück. Sprich es dir selbst vor: Das Leben ist zu Ende, zu früh zwar, was soll’s, da ist nichts zu machen. Die Freiheit sehe ich nicht wieder. Ich werde zugrunde gehen – jetzt oder etwas später, aber später wird’s sogar schlimmer sein, also lieber jetzt. Ich besitze nichts mehr. Die Familie ist für mich gestorben – und ich für sie. Mein Körper ist mir von heut an eine überflüssige fremde Last. Einzig meinen Geist und mein Gewissen will ich bewahren.
Und sieh! Solch ein Häftling bringt die Untersuchung ins Wanken!
Nur der wird siegen, der sich von allem losgesagt hat!
Doch wie seinen Körper in einen Stein verwandeln?
Nun, aus dem Berdjajewschen Kreis haben sie schließlich lauter Marionetten für das Gericht machen können – nur aus ihm selber nicht. Sie haben versucht, ihn mit hineinzuziehen, zweimal haben sie ihn verhaftet, nachts (1922) zum Verhör mit Dserschinski geführt, Kamenew war mit dabei (demnach auch kein Verächter des ideologischen Kampfes mit den Mitteln der Tscheka). Doch Berdjajew hat sich nicht erniedrigt, hat nicht um Gnade gefleht, hat ihnen unumwunden die religiösen und sittlichen Grundsätze dargelegt, die es ihm nicht gestatten, die in Rußland errichtete Macht zu akzeptieren – und am Ende wurde er nicht nur für gerichtsuntauglich erkannt, sondern freigelassen.
Einen STANDPUNKT habe der Mensch!
N. Stoljarowa erinnert sich an eine Pritschennachbarin 1937 in der Butyrka, eine alte Frau. Sie wurde Nacht für Nacht verhört. Zwei Jahre zuvor hatte ein aus der Verbannung entflohener Metropolit bei ihr in Moskau übernachtet. «Nicht ein ehemaliger, sondern ein echter! Es stimmt, ich hatte die Ehre, ihn zu empfangen.» – «Schön, und wohin ist er dann aus Moskau gefahren?» – «Ich weiß es, aber ich sag’s nicht!» (Der Metropolit hatte sich, von einem Gläubigen zum anderen weitergereicht, nach Finnland durchgeschlagen.) Die Untersuchungsrichter arbeiteten in Schichten, einzeln und gruppenweise, fuchtelten mit den Fäusten vor den Augen der Greisin, sie aber ließ sich nicht beirren: «Ihr könnt mir nichts anhaben, und wenn ihr mich in Stücke schneidet. Ihr zittert ja selbst vor dem Chef, voreinander, habt sogar Angst, mich Alte umzubringen. [Sie ist das Schlußglied in der Kette.] Ich aber – fürchte mich nicht! Und müßt ich gleich vor meinen Herrgott hintreten, ihm Red’ und Antwort stehen!»
Es hat, ja, es hat 1937 solche gegeben, die vom Verhör nicht zurückkamen, ihre Kleiderbündel nicht holten. Die den Tod wählten, eh sie gegen andere unterschrieben.
Die Geschichte der russischen Revolutionäre hat uns nicht gerade die besten Beispiele mutiger Standhaftigkeit hinterlassen. Doch auch hier hinkt der Vergleich, denn es hatten unsere Revolutionäre echte gute Verhöre mit zweiundfünfzig Kunstgriffen niemals zu kosten bekommen. Wie die Fuhrleute zu Gogols Zeiten die Geschwindigkeiten der Düsenflugzeuge nicht erahnen konnten, so kann auch niemand die wahren Möglichkeiten der Vernehmungsprozedur erfassen, der nicht den Fleischwolf in der Aufnahmekanzlei des GULAG passiert hat.
4
Die blauen Litzen
Drinnen im Räderwerk des Großen Nächtlichen Etablissements, wenn uns die Seele zermalmt wird, und das Fleisch hängt längst in Fetzen herab, wie von einem Landstreicher die Lumpen – da leiden wir zu sehr, da sind wir zu sehr in unsere Schmerzen verstrickt, als daß uns ein Blick, ein durchleuchtender und prophetischer, für die blassen nächtlichen Häscher bliebe, die uns durch die Marter drehen. Das randvolle Leid macht uns blind – was für vorzügliche Chronisten wären wir sonst unseren Peinigern geworden! Denn sie selbst werden sich leibhaftig nie beschreiben. Doch nein: Es wird sich jeder ehemalige Gefangene genau an sein Verhör erinnern, an die
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