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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Augenblick nicht zu erleben und als Sieger im Keller gestorben zu sein, ohne einen einzigen Satz unterschrieben zu haben.
    Zum ersten Mal siehst du jetzt nicht Feinde. Zum ersten Mal siehst du jetzt Artgenossen, Lebende, die deinen Weg gehen, mit denen du dich verbinden kannst im freudigen Wort WIR.
    Ja, ein Wort dies, das du draußen vielleicht verachtest hast, als es diente, deine Persönlichkeit zu ersetzen («Wir alle wie ein Mann! … wir protestieren! … wir verlangen! … wir schwören! …») – und wie wohltuend ist es dir jetzt: Du bist auf der Welt nicht allein! Es gibt noch vernunft-und geistbegabte Wesen –MENSCHEN!

    Nach vier Tagen meines Zweikampfes mit dem Untersuchungsrichter, als ich mich in meiner grellbeleuchteten Box gerade niedergelegt hatte, keinen Augenblick früher, der Aufseher hatte es abgepaßt, rasselte das Schloß an meiner Tür. Ich hörte es genau, doch in den drei Sekunden ehe er sein «Aufstehen! Zum Verhör!» sprach, wollte ich den Kopf noch auf dem Kissen lassen und mir einbilden, ich schliefe. Der Aufseher kam jedoch mit einer neuen Tour: «Aufstehen! Bettzeug packen!»
    Erstaunt und verärgert, weil es die allerwertvollste Zeit war, wickelte ich mir die Fußlappen um, zog die Stiefel an, den Mantel, die Wintermütze und nahm die zusammengerollte Anstaltsmatratze in die ausgebreiteten Arme. Auf Zehenspitzen, immer mir bedeutend, ich möge keinen Lärm machen, führte mich der Aufseher über den grabesstillen Gang des dritten Stockes der Lubjanka, vorbei am Tisch des Oberaufsehers, vorbei an den spiegelblanken Nummern der Zellen und an den olivgrünen Gucklochklappen, bis zur Zelle Nr. 67; die sperrte er auf. Ich trat ein, hinter mir rasselte sofort das Schloß.
    Eine Viertelstunde, wenn’s viel ist, war seit dem Zapfenstreich vergangen, trotzdem ist die Schlafenszeit dem Untersuchungshäftling so ungewiß und so kostbar, daß die Einwohner der Zelle Nr. 67 bei meiner Ankunft alle schon schliefen, ausgestreckt auf den Metallbetten, die Arme obenauf. Der Lärm schreckte sie auf, alle drei hoben im Nu den Kopf. Auch sie horchten bange, für wen’s aufzustehen galt zum Verhör.
    Diese drei erschrocken erhobenen Köpfe, diese drei unrasierten, zermürbten, blassen Gesichter erschienen mir so menschlich und lieb, daß ich dastand, die Matratze in beiden Armen, und lächelte vor lauter Glück. Und sie lächelten zurück. Was war das doch für ein vergessener Ausdruck! – in einer kurzen Woche vergessen!
    «Von draußen?» fragten sie. (Die übliche erste Frage an einen Neuen.)
    «Nei-ein», antwortete ich. (Die übliche erste Antwort des Neuen.)
    Sie meinten damit, daß ich wahrscheinlich noch nicht lange drinnen wäre und also von draußen kam. Ich hingegen war nach sechsundneunzig Stunden Untersuchungshaft überzeugt, ein erfahrener Häftling zu sein, wieso denn einer von «draußen»? Trotzdem war ich’s, und schon fragte mich der bartlose Alte mit den schwarzen, sehr lebhaften Augenbrauen nach den militärischen und politischen Neuigkeiten aus. Unglaublich! – Obwohl es schon Ende Februar war, wußten sie nichts von der Konferenz in Jalta, auch nichts von Ostpreußen, das eingekreist war, überhaupt nichts über unseren Vorstoß bei Warschau, der Mitte Januar begonnen hatte, nicht einmal etwas über den unrühmlichen Dezemberrückzug der Alliierten. Instruktionsgemäß hatten die Untersuchungshäftlinge über die Außenwelt nichts zu erfahren – und so wußten sie auch nichts!
    Jetzt war ich bereit, die halbe Nacht ihnen zu erzählen, voll Stolz, als wären alle Siege und Umzingelungen meiner eigenen Hände Werk. Da brachte der diensthabende Wärter mein Bett herein, und es mußte lautlos aufgestellt werden. Ein junger Mann meines Alters half mir dabei, so wie ich einer aus der Armee: Sein Uniformrock und die Fliegerkappe hingen am Bettpfosten. Noch vor dem Alten hatte er mich angesprochen – bloß nicht über den Krieg gefragt, sondern um Tabak gebeten. Doch so sehr meine Seele den neuen Freunden entgegenfloß, so wenige Worte in den paar Minuten auch gesprochen worden waren – in diesem meinem Altersgenossen und Frontkameraden witterte ich etwas Fremdes, und ihm verschloß ich mich, ein für allemal.
    (Das Wort Nassedka für einen Zellenspitzel war mir noch unbekannt, daß es von der Sorte in jeder Zelle einen geben mußte, wußte ich ebensowenig, doch bevor ich überhaupt Zeit fand, mir darüber klar zu werden, daß mir dieser Mann, Georgij Kramarenko, mißfiel, hatte

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