Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
sich in meinem Inneren ein geistiges Relais in Gang gesetzt, ein Erkennungsrelais, das diesem Menschen für immer den Zugang zu mir versperrte. Ich würde einen solchen Fall nicht erwähnen, wenn er der einzige geblieben wäre. Aber bald begann ich die Arbeit dieses Erkennungsrelais mit Verwunderung, Freude und Beängstigung als eine beständige, mir angeborene Eigenheit zu empfinden. Jahre vergingen, mit Hunderten von anderen Menschen hatte ich auf den gleichen Pritschen zu liegen, in derselben Kolonne zu marschieren, in einer Brigade zu arbeiten, und er ließ mich nie im Stich, dieser geheimnisvolle Erkenner, an dessen Zustandekommen ich nicht das leiseste Verdienst habe, er reagierte, noch bevor ich mich an ihn erinnerte, auf jedes menschliche Gesicht, auf ein Paar Augen, auf die ersten Laute einer Stimme – und dann öffnete er mich diesem Menschen, sperrangelweit oder nur einen Spalt breit oder gar nicht: Da schnappte etwas zu. Es geschah dies immer so untrüglich, daß mir all das Getue der Lageraufseher rund um den Einsatz von Zuträgern bald kindischkükenhaft erschien: Trägt’s nicht der, der zum Verräter sich verdungen hat, auf dem Gesicht geschrieben, hört man’s nicht aus seiner Stimme, so schlau sich mancher auch anstellt – etwas stimmt immer nicht. Und umgekehrt half mein Erkenner jene herauszufinden, denen man, vom ersten Kennenlernen an, das Ureigenste, Geheimste und Tiefste offenbaren konnte. So bestand ich die acht Jahre Haft, die drei Jahre Verbannung und nochmals sechs Jahre illegaler Schriftstellerei, die in nichts ungefährlicher waren, und vertraute mich in all den siebzehn Jahren bedenkenlos vielen Dutzenden von Menschen an, und zahlte niemals drauf! Ich habe darüber nirgends was gelesen und beschreibe es hier für Liebhaber psychologischer Phänomene. Ich glaube, daß solche geistigen Vorrichtungen in vielen von uns «eingebaut» sind, doch als Menschen eines allzu technischen und intellektuellen Jahrhunderts schätzen wir dieses Wunder gering und lassen es nicht zur vollen Entfaltung kommen.)
Das Bett hatten wir aufgestellt – nun hätte ich erzählen können (natürlich leise und liegend, um nicht gleich wieder aus dieser Gemütlichkeit heraus in den Karzer zu geraten), da meldete sich unser dritter Zellengenosse, ein Mann in mittleren Jahren, aber schon mit weißgrauen Nadelspitzen im geschorenen Haar; er hatte mich leicht unzufrieden angesehen und sagte nun mit der Rauheit, die den Nordländer ziert:
«Morgen. Die Nacht ist zum Schlafen da.»
Es war in der Tat das vernünftigste. Jeden von uns konnten sie zu jeder Stunde dieser Nacht zum Verhör schleifen und bis sechse am Morgen dortbehalten, wenn der Richter schlafen ging und für uns das Schlafen schon wieder verboten war.
Eine Nacht ungestörten Schlafs überwog sämtliche Geschicke des Planeten!
Und ein weiteres Störendes, doch nicht gleich zu Erfassendes, lag mit den ersten Sätzen meiner Erzählung im Raum; zu früh aber war es noch für mich, ihm einen Namen zu geben: Eine alles umfassende Umpolung war eingetreten (mit der Verhaftung eines jeden von uns), oder eine hundertachtziggradige Umkehrung aller Begriffe, und was ich mit solchem Feuereifer zu erzählen begann – war für uns vielleicht gar nicht zum Freuen.
Sie rollten sich zur Seite, bedeckten ihre Augen zum Schutze gegen die zweihundert Watt mit Taschentüchern, umwickelten den oberen Arm, der außerhalb der Decke zu frieren hatte, mit Handtüchern, schoben den anderen verstohlen darunter und schliefen ein.
Ich aber lag wach, randvoll erfüllt von diesem Fest: bei Menschen zu sein. Vor einer Stunde noch hatte ich nicht damit rechnen können, daß man mich mit jemandem zusammenlegen würde. Es hätte auch zu Ende gehen können mit mir (der Untersuchungsrichter versprach mir nicht einmal die Kugel ins Genick), ohne daß ich noch jemanden gesehen hätte. Noch immer hing die Untersuchung über mir, doch wie weit war sie zurückgetreten. Morgen werde ich erzählen – (nicht über meinen Fall natürlich), morgen werden sie erzählen – wie interessant wird doch der morgige Tag, einer der besten im Leben! (Dieses Bewußtsein kam mir sehr früh und sehr klar: daß das Gefängnis für mich kein Abgrund ist, sondern die wichtigste Wende des Lebens.)
Aber mit den Leuten, die ich hier traf, wurde einem die Zeit nicht zu lang. Hör nur zu und vergleiche nach Herzenslust.
Jener alte Mann mit den lebhaften Brauen (der gab sich noch sehr munter mit seinen
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