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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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dreiundsechzig Jahren) hieß Anatolij Iljitsch Fastenko. Er war eine echte Zierde unserer Lubjankazelle – als Hüter der alten russischen Häftlingstraditionen gleichwie als lebendige Geschichte der russischen Revolutionen. Was in seinem Gedächtnis aufbewahrt war, das machte er quasi zum Maßstab für alles Geschehene und Geschehende. Solcher Menschen braucht es nicht nur in der Zelle, die Gesellschaft als Ganzes hat ihrer nicht genug.
    Den Zunamen Fastenko fanden wir an Ort und Stelle: in einem Buch über die Revolution von 1905, das wir zum Lesen bekamen. Fastenko war von so lange her Sozialdemokrat, daß er, scheint’s, bereits aufhörte, einer zu sein.
    Seine erste Freiheitsstrafe erhielt er als junger Mann im Jahre 1904, kam aber mit dem «Manifest» vom 17. Oktober 1905 glatt wieder frei.
    Es gab vieles an Fastenko, was ich noch nicht verstehen konnte. Das beinahe Wichtigste und Allererstaunlichste schien mir darin zu liegen, daß er Lenin gut gekannt hatte, er selbst aber erzählte es ohne sonderlichen Enthusiasmus. (Meine Stimmung von damals, die war: Jemand nannte Fastenko beim Vatersnamen, ohne den Vornamen davorzusetzen, einfach so: «Iljitsch, trägst du heute den Pißkübel hinaus?» Ich fuhr auf, ich war aufs tiefste gekränkt, es schien mir lästerlich, nicht nur in diesem Zusammenhang, nein, überhaupt lästerlich, jemand anderen als den Einzigen Iljitsch zu nennen. Darum vermochte mir auch damals Fastenko trotz seinem Bemühen erst weniges zu erklären.
    Er sagte es mir ganz eindeutig und in gutem Russisch: «Du sollst dir keine Götzen schaffen!» Doch ich verstand es nicht!
    Er kämpfte gegen meinen Enthusiasmus an, indem er nicht müde wurde, mir zu wiederholen: «Sie sind Mathematiker! Sie müßten sich schämen, Descartes zu vergessen: Bezweifle alles! Alles !» Was heißt – «alles»? Doch nicht wirklich alles ? Mich dünkte, daß es reichte, woran alles ich zu zweifeln begonnen hatte!
    Dann sagte er wieder: «Von den alten Politischen ist kaum wer geblieben, ich bin einer von den letzten. Die politischen Strafgefangenen von früher sind alle vernichtet, unseren Verband haben sie schon in den dreißiger Jahren aufgelöst.» – «Warum denn?» – «Damit wir nicht zusammenkommen, nicht diskutieren.» Und obwohl diese einfachen und ganz ruhig gesprochenen Worte zum Himmel hätten schreien, die Scheiben hätten sprengen müssen, sah ich darin wiederum bloß eine von Stalins Greueltaten mehr. Die Tatsache wog schwer, gewiß, aber die Wurzeln übersah ich.
    Es stimmt genau, daß nicht alles, was durch unsere Ohren geht, auch bis zu unserem Bewußtsein dringt. Was unserer Stimmung allzufern liegt, geht verloren; ob in den Ohren, ob dahinter – es verschwindet. So kommt es, daß ich mich ganz deutlich an die zahlreichen Erzählungen Fastenkos erinnere und nur sehr verschwommen an seine Überlegungen. Er nannte mir verschiedene Bücher, die ich mir irgendwann, wenn ich freikam, unbedingt beschaffen und vornehmen sollte. Alter und Gesundheit ließen ihm keine Hoffnung auf die eigene Freiheit, um so größere Freude machte ihm der Gedanke, daß ich mich irgendwann damit befassen würde …
    Fastenko war in unserer Zelle der Munterste, obwohl er sich bei seinem Alter als einziger keine Chancen mehr aufs Überleben ausrechnen konnte. Er sprach zu mir, den Arm um meine Schulter:
    «Leicht ist’s für die Wahrheit einzu stehen !
    Sitz mal für die Wahrheit deine Jahre ab!»
    und lehrte mich sein Lied, ein Katorga -Lied:
    «Und sollt es auch kommen zum Sterben
    In düsterer Haft und im Schacht,
    Es wird in den lebenden Erben
    Die Sache von neuem entfacht!»
    Ich glaube daran! Und diese Zeilen mögen helfen, daß sich sein Glaube erfülle!

    Jeder Mensch hofft im Frühling auf Glück, und jeder Häftling erhofft es sich zehnfach so stark! Du, Aprilhimmel! Das macht nichts, daß ich im Gefängnis stecke. Erschießen werden sie mich wohl nicht. Dafür werde ich klüger werden da drinnen. Werde vieles verstehen lernen, Himmel! Werde meine Fehler gutmachen können – nicht vor ihnen – vor dir, Himmel! Ich habe hier begriffen, was ich falsch getan – und werde es noch geradebiegen, später.
    Das Rundendrehen im Hof dauert im ganzen zwanzig Minuten, doch was gibt es nicht alles dabei zu erledigen!
    Beim Spaziergang selbst heißt es nur mehr atmen – mit aller Konzentration.
    Doch ist es dort, in der Einsamkeit unter dem hellen Himmel, auch gut, sich sein künftiges helles, tadel-und fehlerloses Leben

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