Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
hatte einen vereiterten Hals. Sein Zellengenosse aber hatte vom häufigen Karzer den Verstand verloren, und Kosyrew mußte länger als ein Jahr die Zelle mit dem Irren teilen.
Und eben erst hier – erst hier! – hätte dieses unser Kapitel beginnen sollen. Es hätte jenes schimmernde Licht einfangen müssen, das mit der Zeit wie ein Heiligenschein der Seele eines Einzelhäftlings entsteigt. Der Hast des Lebens so absolut entrissen, daß selbst das Messen der verrinnenden Minuten zum intimen Umgang mit dem All wird, findet sich der Einzelhäftling von aller Halbheit geläutert, die ihn im vergangenen Leben quälend umfing und das Trübe in ihm sich absetzen ließ. Wie edel ist dieses Bild seiner im Erdreich grabenden, die Erdklumpen zart zerbröckelnden Finger (na, im übrigen ist’s Asphalt! …). Wie wendet sich doch sein Haupt ganz von selbst dem Ewigen Himmel zu (na, im übrigen ist’s verboten! …). Wieviel gerührte Aufmerksamkeit erweckt in ihm ein am Fenstersims hüpfender Spatz (na, im übrigen ist der Maulkorb davor und das Netz, und ein Eisenschloß hängt an der Lüftung …). Und was für klare Gedanken, was für erstaunliche Einfälle ihm zuweilen aufs zugeteilte Papier fließen (na, im übrigen kriegst du nur mit Mühe welches und nicht immer im Laden, und wenn’s vollgeschrieben ist, heißt es: Zur ewigen Aufbewahrung in die Gefängniskanzlei zurück! …).
Doch ach, die griesgrämigen Einwürfe – sie stören unsre Kreise. Es knistert im Gebälk unseres Kapitelkonzepts, es knarrt, es kracht, und schon wissen wir nicht mehr, ob im Gefängnis des Neuen Typus, im Gefängnis zur besonderen (welcher denn?) Verwendung – ob darin die Seele des Menschen geläutert wird? oder endgültig zugrunde geht?
Wenn du an jedem Morgen zuallererst die Augen deines irrgewordenen Zellengenossen zu sehen bekommst – wodurch sollst du dich selber in den anbrechenden Tag retten? Nikolai Alexandrowitsch Kosyrew, dessen brillante astronomische Laufbahn durch die Verhaftung unterbrochen worden war, wußte sich nur durch die Gedanken an Ewiges und Unendliches zu retten: an die Weltordnung – und ihren Obersten Geist; an die Sterne; an ihre innere Beschaffenheit; und darüber, was eigentlich Zeit ist, Zeit und der Lauf der Zeit.
Und so eröffnete sich ihm ein neues Gebiet der Physik. Und nur das hielt ihn im Dmitrower Gefängnis am Leben. Bald jedoch stießen seine Überlegungen an vergessene Ziffern, er konnte nicht weiterbauen, weil er viele Ziffern dazu brauchte. Woher sie nehmen: in der Einzelzelle mit der kümmerlichen Nachtfunzel, wohin auch ein Vogel sich nicht verirren konnte? Und der Gelehrte erhob seine Stimme zu Gott: «Herr! Ich habe alles getan, was ich konnte. Aber ich brauche Deine Hilfe! Hilf mir weiter!»
Zu jener Zeit stand ihm in je zehn Tagen je ein Buch zu (er war bereits in der Zelle allein). In der ärmlichen Gefängnisbibliothek gab es einige Auflagen des Roten Konzerts von Demjan Bednyj, und die wurden ihm wieder und wieder in die Zelle gebracht. Seit seinem Stoßgebet war eine halbe Stunde verstrichen, da kam einer von der Bibliothek das Buch austauschen und warf ihm – wie immer, ohne zu fragen – ein «Lehrbuch der Astrophysik» auf den Tisch! Woher das? Es ließ sich ja gar nicht ahnen, daß so was in der Bibliothek zu finden wäre! Lange konnte diese Begegnung nicht dauern, also stürzte sich Kosyrew in weiser Voraussicht aufs Lesen: nur alles in sich aufnehmen, nur alles sich einprägen, was ihm heute vonnöten war und was er vielleicht später brauchen würde. Zwei Tage waren noch nicht um, acht weitere standen ihm für das Buch zu – als plötzlich der Gefängnisdirektor zur Visite kam. Mit Habichtaugen merkte er sogleich die Ungebühr. «Sie sind doch von Beruf Astronom?» – «Jawohl.» – «Fort mit diesem Buch!» – Und sie nahmen es ihm weg, aber dessen mystisches Auftauchen hatte den Weg für das Weiterforschen freigemacht, auch für später, im Lager von Norilsk.
Nun also müßten wir das Kapitel über die Große Opposition von Seele und Gitter beginnen.
Doch hört! Was ist? … Ein unverschämt lautes Rasseln im Schloß. Ein finsterer Korpskommandant mit einer langen Liste: «Zu-, Vor-, Vatersnamen? Geburtsjahr? Paragraph, Haftzeit? Von bis? … Antreten mit Sachen ! Flink, flink!»
Na, Bruderherz, es geht zum Abtransport! … Wir fahren … Bloß – wer weiß, wohin? Gott steh uns bei! Ob wir mit heiler Haut davonkommen?
Halten wir’s so: Wenn wir am Leben
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