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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Stammeinwohner des Archipels zu mischen. Was ein namhafter Ausländer war oder eine allzu bekannte Person, ein geheimer Gefangener oder ein eigener abservierter Gebist, konnte unter keinen Umständen offen im Lager präsentiert werden: der eine zusätzlich gewonnene Schubkarren würde den moralisch-politischen Schaden der Publizität nicht aufwiegen. Genauso unzulässig wäre es gewesen, die notorisch auf ihre Rechte pochenden Sozialisten mit den Massen zu vermischen – und um so bequemer war es, sie just unter dem Vorwand ihrer Privilegien und Rechte gesondert zu halten und abzuwürgen. Viel später, in den fünfziger Jahren, wird man, wie wir noch erfahren, auf das zbV-Gefängnis TON auch zur Isolierung von Lagerrebellen zurückkommen. In seiner Enttäuschung über die «Besserung» von Dieben wird der greise Stalin noch die Weisung geben, auch den Bandenchefs den Tjursak und nicht das Lager aufzubrummen. Und schließlich mußten auch noch solche Delinquenten in kostenlose Staatsverpflegung genommen werden, die im Lager ihrer Schwäche wegen sofort gestorben wären und sich somit der Strafverbüßung entzogen hätten.
    Gemäß den Anforderungen vollzog sich die Bewahrung, Erneuerung, Festigung und Vervollkommnung des alten, von der Romanow-Dynastie ererbten Zuchthausbestandes. Manche Zentrals, so das in Jaroslawl, waren derart solid und bequem eingerichtet (eisenbeschlagene Türen, in jeder Zelle im Boden verankert ein Tisch, ein Schemel, eine Liege), daß es nur mehr der Anbringung von Maulkörben an den Fenstern und der Abzäunung von zellengroßen Spazierflecken im früheren Gefängnishof bedurfte (bis 1937 waren in den Gefängnissen alle Bäume gefällt, die Rasen und Gemüsebeete umgeackert, jedes Fleckchen Erde asphaltiert worden). Andere wieder, so das in Susdal, mußten angesichts der ursprünglichen klösterlichen Bestimmung einen Umbau erfahren, was jedoch auf keinerlei Schwierigkeiten stieß, sintemal die Einkerkerung des Leibes im Kloster und die rechtlich begründete Einkerkerung im Gefängnis körperlich-analoge Ziele anpeilt. Ähnlich erfolgte die Adaptation eines Teils des Suchanow-Klosters – schließlich und endlich mußten ja auch gewisse Verluste am Gesamtbestand wettgemacht werden …
    In den zwanziger Jahren war die Kost in den Politisolatoren durchaus passabel: Fleisch zu jedem Mittagsmahl, frisches Gemüse im Topf, und Milch im Laden zu kaufen. Eine jähe Verschlimmerung trat 1931–33 ein, doch da gab es ja auch draußen nicht viel mehr zum Beißen. Skorbut und Hungerohnmacht waren damals in den Politisolatoren keine Seltenheit. Das mit dem Essen kam später wieder ins Lot, aber wie früher war’s nimmer.
    Das Licht war in den Zellen sowieso rationiert: in den dreißiger Jahren wie in den vierzigern; dank den Maulkörben und dem drahtbewehrten trüben Fensterglas lagen die Zellen im ständigen Dämmer (die Dunkelheit ist ein wichtiger Faktor der seelischen Unterjochung!). Über den Maulkorb wurde obendrein oft noch ein Netz gespannt, im Winter lag Schnee darauf und verschlang den letzten Schimmer Lichts. Beim Lesen konnte man sich nur mehr die Augen verderben, die schmerzten ohnedies. Im Wladimirer TON wurde dieser Mangel an Licht in den Nächten wettgemacht: Da strahlten die Zellen im grellen Lampenlicht und störten einen beim Schlaf. Hingegen gab es im Dmitrower Gefängnis (N. A. Kosyrew) 1938 als einzige Lichtquelle eine Ölfunzel unter der Decke, die brannte den Leuten die letzte Luft weg; 1939 kamen Lampen mit halber Rotglut in Schwang.
    Die Luft war ebenfalls rationiert, die Lüftungsklappen hatten Vorhängeschlösser und wurden nur beim Austreten geöffnet. Wiederum gab es in Wladimir 1948 keine Beschränkungen der Luftkonsumation, die Lüftung blieb Tag und Nacht offen.
    Die Dauer des Spaziergangs schwankte je nach Jahr und Gefängnis zwischen fünfzehn und fünfundvierzig Minuten. Jener Umgang mit der Erde, wie in Schlüsselburg oder auf den Solowki gepflegt, war längst ausgetilgt und alles, was da wuchs, herausgerissen, zertrampelt, mit Beton und Asphalt zugegossen. Beim Spaziergang brüllten sie schon, wenn einer nach den Wolken schaute: «Augen auf den Boden!» – erinnern sich Kosyrew und die Adamowa (im Gefängnis von Kasan).
    Besuche von Verwandten wurden 1937 verboten und nicht wieder zugelassen. Briefe durfte man an die nahen Verwandten zweimal im Monat schreiben, ebensoviele von ihnen erhalten, dies in beinahe allen Jahren (aber in Kasan: «Durchlesen und am

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