Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
wurde in Moskau in ein Abteil mit dreißig Frauen verpackt, davon waren die meisten stockalte Mütterchen, die «wegen des Glaubens» in die Verbannung gingen ( alle außer zweien mußten nach der Ankunft ins Krankenhaus). Sie hatten im Abteil keine Toten, weil auch einige junge, aufgeweckte und hübsche Mädchen mitfuhren (wegen «Ausländerfreundschaft» verurteilt). Die Mädchen nahmen sich die Wachen vor, versuchten, ihnen ins Gewissen zu reden: «Schämt ihr euch nicht? Sind doch eure Mütter, die ihr so behandelt!» Das fand Gehör, weniger wohl wegen der sittlichen Argumentation als des gefälligen Äußeren der Mädchen wegen – einige Frauen wurden in den Karzer übersiedelt. Im Stolypin aber ist der Karzer keine Strafe, sondern ein Genuß. Von den fünf Häftlingsabteilen werden nur vier als Gemeinschaftszellen verwendet, das fünfte ist in zwei Hälften geteilt: zwei Kleinkupees entstehen, Schaffner fahren sonst in solchen: Eine Sitzbank unten, eine Liegebank in der Mitte. Diese Karzer dienen der Isolation; darin zu dritt, zu viert zu fahren, bedeutet das höchste an Komfort.
Nein, nicht um die Häftlinge absichtlich mit Durst zu martern, werden die Halberstickten, Halberdrückten an all den Tagen ihrer Reise nur mit Salzheringen oder trockenem Bückling gefüttert (so war es in allen Jahren, 1930 wie 1950, winters wie sommers, in Sibirien und in der Ukraine, die Zitierung von Beispielen erübrigt sich in diesem Fall). Nicht um die Menschen zu quälen, aber – wüßten Sie was Besseres vorzuschlagen? Womit hätte man das Pack unterwegs füttern sollen? Die warme Ration ist im Waggon nicht vorgesehen (die Küche, die in einem Abteil des Stolypin mitfährt, ja, die ist für die Wachmannschaft). Die Graupen trocken verteilen? Das geht nicht. Rohen Fisch? Geht nicht. Fleischkonserven? Daß sie sich fett fressen? Etwas Besseres als Salzheringe findest du nicht, dazu ein Stück Brot – was will man mehr?
Nimm ihn nur, nimm ihn, deinen halben Hering und sei’s zufrieden! Wenn du klug bist, steckst du den Hering in die Tasche und hältst es ohne aus, im Durchgangslager kannst du sie alle auffressen, weil’s dort Wasser gibt. Schlimm wird es, wenn sie in grobem Salz gewälzte nasse Asow-Sardellen verteilen; die werden dir im Sack kaputt, drum fang das Ding lieber gleich in den Rockschoß, ins Taschentuch, in die hohle Hand und iß. Der Haufen Sardellen kommt zum Aufteilen auf irgendwessen Joppe. Den trockenen Bückling schüttet die Wache direkt auf den Boden, zerstückelt wird er auf der Bank, auf den Knien.
Sobald du deinen Fisch bekommen hast, ist dir auch das Brot gewiß und vielleicht sogar ein Stück Zucker. Schlimmer, wenn die Wache mit der Meldung angerückt kommt, für heute sei die Fütterung abgesagt, weil für die Seki nicht gefaßt werden konnte. Mag sein, daß es stimmt: Irgendein Gefängnisbuchhalter hat sich in der Rubrik verschaut. Mag genausogut sein, daß sie sehr wohl gefaßt haben, bloß selbst mit ihrer Ration nicht auskommen (kriegen auch nicht gerade viel zum Beißen), darum das Brot geangelt haben und auch das halbe Stück Salzhering nicht mehr verteilen, denn das sähe ohne Brot verdächtig aus.
Und natürlich geschieht es nicht, um den Häftling zu martern, daß sie ihm nach dem Hering kein Wasser geben, weder heißes abgekochtes (das ohnedies nie) noch einfach von der Wasserleitung welches. Begreiflich ist’s: Das Bewachungspersonal ist knapp, die einen stehen im Gang auf Posten, die andern schieben im Windfang Wache, müssen in den Stationen unter den Waggon aufs Dach kriechen, Ausschau halten, ob nirgendwo ein Loch gebohrt wurde. Ein weiterer putzt die Waffen, und schließlich darf auch die politische Schulung nicht zu kurz kommen, und die Dienstordnung will studiert werden. Die dritte Schicht, die schläft inzwischen, acht Stunden stehen ihnen zu, der Krieg ist ja vorbei. Außerdem: Das Wasser in Eimern von weither zu schleppen ist nicht nur beschwerlich, auch kränkend: Warum soll sich ein sowjetischer Krieger für die Feinde des Volkes wie ein Maulesel abrackern? Dann wieder wird der Stolypin-Wagen beim Verschieben oder Umkoppeln auf einem abgelegenen Geleise vergessen (nur fort aus der Sichtweite), da bleibt auch die eigene Rotarmistenküche ohne Wasser. Einen Ausweg gibt es freilich: aus dem Lok-Tender einen Eimer vollzuschöpfen – gelb, trüb, Schmieröl schwimmt drauf. Die Seki trinken’s gern, nitschewo, die können’s im Dämmer des Abteils nicht recht erkennen:
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