Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Gleichschaltung unser ganzes Leben erfaßte; darum wäre es gerechter gewesen, ihn nicht Stolypin, sondern Stalin zu nennen. Doch gegen die Sprache aufkommen zu wollen, ist müßig.
Der Stolypin ist ein gewöhnlicher Eisenbahnwagen mit acht Abteilen, davon fünf für die Häftlinge (wie überall im Archipel fällt die Hälfte aufs Bedienungspersonal!); diese nun haben nicht Trennwände zum Gang, sondern Gitter, die den Durchblick ins Innere freigeben. Das Gitter, gekreuzte schräge Stäbe, wie man sie auch am Bahnhof zur Einzäunung von Rasen verwendet, reicht bis hinauf zur Decke und schneidet das sonst übliche Gepäckfach über dem Gang ab. Die Gangfenster sind wie sonst, bloß ebenfalls von außen vergittert, und die Häftlingsabteile haben keine Fenster, nur ein kleines, natürlich vergittertes blindes Loch überm mittleren Liegebrett (die Fenster fehlen! Darum haben wir den Stolypin für einen Gepäckwagen angesehen). Vorm Abteil ist eine Schiebetür: ein Eisenrahmen mit gleichem Gitter.
Vom Gang her gesehen, gemahnt das Ganze auffallend an eine Menagerie: Auf dem Boden und auf den Hängebrettern krümmen sich jämmerliche, menschenähnliche Geschöpfe, stieren flehentlich durchs Gitter, betteln um Wasser und Nahrung. Aber niemals werden in einem Tiergarten so viele Tiere in einen Käfig gestopft.
Nach Berechnungen frei lebender Ingenieure kann ein Stolypinsches Abteil elf Mann fassen: sechs sitzen unten, drei liegen im Mittelgeschoß (die beiden Liegen sind zu einer durchgehenden Pritsche umgebaut, mit einem kleinen Ausschnitt fürs Auf-und Absteigen an der Tür) und zwei im Gepäckfach oben. Sobald nun zu diesen Elf abermals elf hineingezwängt worden sind (die letzten tritt der absperrende Aufseher bereits mit den Füßen hinein), ist die durchaus normale Auslastung des Häftlingsabteils erreicht. Je zwei sitzen halb verrenkt auf dem oberen Brett, fünf legen sich aufs mittlere (fünf Glückspilze sind das, denn diese Plätze werden im Kampf erobert, eine sichere Beute der Kriminellen, wo’s solche im Abteil gibt), den übrigen dreizehn bleibt das Untergeschoß: je fünf sitzen auf den Bänken, drei auf dem Boden dazwischen. Irgendwo auf und unter den Menschen liegen ihre Sachen verstreut. So fährt man denn mit eingezwängten, angezogenen Beinen Tage und Tage.
Nein, es ist keine besondere Absicht dabei, die Leute zu quälen! Der Verurteilte ist ein Soldat der Sozialistischen Arbeitsfront, wozu ihn quälen, so er zur Arbeit taugt. Doch fährt er ja auch nicht zur Schwiegermutter auf Besuch – das müssen Sie wohl zugeben? – und sollen ihn am Ende die Freien scheel anschaun, weil er’s besser hat? Unsere Transportschwierigkeiten sind bekannt; wird schon nicht abschrappen unterwegs.
In den fünfziger Jahren, als die Fahrpläne sich eingependelt hatten, dauerte eine solche Reise nicht lange: na, anderthalb, bitteschön, zwei Tage rund um die Uhr. Im Krieg und nach dem Krieg war es schlimmer: von Petropawlowsk (in Kasachstan) bis Karaganda brauchte der Stolypin mitunter sieben Tage (mit je fünfundzwanzig Häftlingen im Abteil), von Karaganda bis Swerdlowsk acht Tage (sechsundzwanzig im Abteil). Sogar von Kuibyschew bis Tscheljabinsk fuhr Susi im August 1945 einige Tage – und es waren ihrer fünfunddreißig Mann im Abteil, einer lag einfach am andern, ein strampelndes, ringendes Menschenknäuel. N. W. Timofejew-Ressowski fuhr im Herbst 1946 die Strecke Petropawlowsk – Moskau in einem mit sechsunddreißig Mann belegten Abteil! Einige Tage lang hing er zwischen Menschen, ohne den Boden mit den Zehen zu berühren. Dann begannen welche wegzusterben, man zog sie den übrigen unter den Füßen hervor (allerdings nicht gleich, erst tags darauf) – da wurde es bequemer. Seine Reise nach Moskau dauerte alles in allem drei Wochen .
Ob sechsunddreißig das Limit waren? Die Zahl siebenunddreißig ist nicht bezeugt, und dennoch müssen wir, der einzig wissenschaftlichen Methode sowie des Kampfes gegen die «Grenzwertler» eingedenk, die Frage entschieden verneinen. Ein Grenzwert ist’s nicht! Vielleicht irgendwo anders, aber nicht bei uns! Solange im Abteil, ob zwischen den Schultern, Köpfen oder Füßen, auch nur einige Kubikdezimeter unverdrängter Luft bleiben – steht das Abteil für die Aufnahme weiterer Häftlinge bereit! Als errechenbares Limit könnte man bedingt die Zahl der bei ordentlicher und kompakter Schichtung im Gesamtvolumen des Abteils unterzubringenden Leichen annehmen.
Vera Kornejewa
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