Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
Existenzberechtigung geben. Und darum hörte die Obrigkeit auch in den dreißiger Jahren auf, Hungerstreiksankündigungen offiziell zur Kenntnis zu nehmen. «Der Hungerstreik als Kampfmittel existiert nicht mehr », wurden Jekaterina Olizkaja 1932 und viele andere vorher und nachher belehrt. Eure Hungerstreiks sind von uns annulliert – und damit basta! Die Olizkaja aber gehorchte nicht und begann zu hungern. Und sie ließen sie fünfzehn Tage gewähren, brachten sie dann ins Spital, setzten ihr als Versuchung Milch mit Zwieback vor. Und doch hielt sie stand und trug am neunzehnten Tag den Sieg davon; ihre Forderungen aber waren: ein verlängerter Spaziergang, Zeitungen und Pakete vom Politischen Roten Kreuz (so mußte sich einer abmühen, um zu bekommen, was ihm rechtens zustand!). Ein nichtiger Sieg im Grunde und viel zu teuer bezahlt. Die Olizkaja weiß auch von Mitgefangenen über ähnlich unsinnige Hungerstreiks zu berichten: Um die Übergabe eines Pakets oder den Austausch des Spazierpartners zu erreichen, hungerten manche bis zu zwanzig Tagen. Lohnte es sich? Denn man bedenke: Im Gefängnis des Neuen Typus konnte, was einem an Kräften verlorgenging, nicht wiederhergestellt werden. Koloskow, ein Sektierer, hungerte auf diese Weise – und starb am fünfundzwanzigsten Tag. Kann man sich im Gefängnis des Neuen Typus das Hungern überhaupt erlauben? Denn es standen den neuen Kerkermeistern unter den Bedingungen der Abgeschirmtheit und Geheimhaltung fortan überaus starke Mittel gegen Hungerstreiks zur Verfügung:
    1. Die Langmut der Anstaltsdirektion. (Die oben angeführten Beispiele liefern dafür ein beredtes Zeugnis.)
    2. Der Betrug. Auch dies ist der Abgeschirmtheit zu danken. Solange jeder Schritt von den Reportern in die Welt hinausgetragen wird, macht das Betrügen Mühe. Nicht so bei uns, da lüg einer nach Herzenslust. 1933 hielt S. A. Tschebotarjow im Gefängnis von Chabarowsk einen siebzehntägigen Hungerstreik, damit man seine Familie benachrichtige, wo er sei (sie kamen gerade von der Ostchinesischen Bahn, als er plötzlich «verschwand», nun verzehrte er sich in Sorgen um seine Frau). Am siebzehnten Tag suchte ihn der stellvertretende Chef der Regional-OGPU Sapadnyj in Begleitung des Chabarowsker Staatsanwalts auf (am Rang der Besucher ist zu sehen, daß lange Hungerstreiks nicht allzu häufig waren); sie zeigten ihm eine Postquittung (fürs Telegramm an die Frau, natürlich) – und danach ließ er sich eine Bouillon einflößen. Die Quittung aber war gefälscht!
    3. Die Zwangsernährung. Dieses Mittel stammt zweifellos aus der Tiergartenpraxis. Grundbedingung ist die Geheimhaltung. 1937 war die künstliche Ernährung offensichtlich schon allerorts Usus.
    4. Die neue Betrachtungsweise: Der Hungerstreik bedeutet die Fortsetzung der konterrevolutionären Tätigkeit im Gefängnis und ist mit neuen Straffristen zu ahnden.
    Eine um die Mitte 1937 erlassene Direktive gab den Gefängnisdirektionen zu wissen, daß sie von nun an der Verantwortung für die an einem Hungerstreik Verstorbenen zur Gänze enthoben seien ! Die Kerkermeister waren des letzten Rests von persönlicher Haftung ledig. (Nun hätte auch Tschebotarjow lange auf den Staatsanwalt warten müssen! …) Ein weiteres wurde für die Seelenruhe der Untersuchungsrichter getan: Die durch einen Hungerstreik verlorenen Tage seien von der Untersuchungshaft abzuziehen, haben demnach nicht nur als nichtexistent, sondern darüber hinaus als quasi in Freiheit verbracht zu gelten! Den Hungerstreik hat’s nicht gegeben, und seine einzige spürbare Folge sei darum die Ausmergelung des Gefangenen!
    Jahrzehnte zogen ins Land, und die Zeit vollbrachte das Ihre. Schon war der Hungerstreik, das erste und natürlichste Recht des Gefangenen, den Gefangenen selber fremd und unverständlich geworden, immer seltener verspürte einer die Lust dazu. Und in den Augen der Kerkermeister war es bald nichts als Dummheit oder böswillige Aufsässigkeit.

    Obwohl sich der riesige Archipel bereits gedehnt und geweitet hatte, gingen die Sitzgefängnisse darob noch lange nicht zugrunde. An Eiferern für die alte Zuchthaustradition mangelte es nicht, genausowenig an Traditionserneuerern. All das, was der Archipel an Neuem und Unschätzbarem zur Erziehung der Massen beitrug, bedurfte, um Vollendung zu sein, einer gewissen Abrundung – und diese lieferten die TONs und Sitzgefängnisse schlechthin.
    Nicht jeder, den die Große Maschine verschlang, hatte sich unter die

Weitere Kostenlose Bücher