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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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bleiben – erzählen wir’s ein andermal zu Ende. Später. Wenn …

Zweiter Teil
    Ewige Bewegung
Das sehn wir auch den Rädern ab,
den Rädern!
Die gar nicht gerne stille stehn,
die Räder …
Die Steine selbst, so schwer sie sind,
die Steine!
Sie tanzen mit den muntren Reih’n …
die Steine …
Wilhelm Müller

1
Die Schiffe des Archipels
    Von der Bering-Straße bis fast zum Bosporus hin liegen die abertausend Inseln des verwunschenen Archipels verstreut. Unsichtbar sind sie, aber vorhanden, und ebenso unsichtbar, doch stetig müssen die unsichtbaren Sklaven befördert werden, jeder ein Leib, ein Volumen, ein Gewicht.
    Wohin sie befördern? Womit denn?
    Dazu gibt es große Häfen – die Durchgangsgefängnisse, und etwas kleinere – die Lager-Durchgangsstellen. Dazu gibt es stahlbewehrte geschlossene Schiffe – die Sak-Waggons, undd die werden draußen an der Reede statt von Booten und Kuttern von ebensolchen stählernen, geschlossenen und flinken Schwarzen Raben in Empfang genommen. Die Sak-Waggons haben ihren Fahrplan. Und im Bedarfsfall werden ganze Karawanen aus roten Viehwagen abgefertigt, und sie rollen, die roten Sonderzüge, von Hafen zu Hafen quer durch den Archipel.
    Ein gut eingespieltes System ist dies, in Jahrzehnten geruhsamer Arbeit von satten und bestens ausgerüsteten Männern mit Bedacht geschaffen. Die Kineschmer Wachabteilung hatte an ungeraden Tagen um 17 Uhr am Moskauer Nordbahnhof den Schub aus den Gefängnissen Butyrka, Presnja und Taganka zu übernehmen. Die Iwanower Wachabteilung mußte an geraden Tagen um 6 Uhr früh zum Bahnhof, um die Umsteiger nach Nerechta, Beschezk und Bologoje auszuladen und unter Aufsicht zu halten.
    Es geschah in nächster Nähe, in Körpernähe von Ihnen, jedoch unsichtbar für Sie (zumal Sie die Augen schließen konnten). Wo’s große Bahnhöfe waren, wurde die trübe Fracht fernab vom Personenbahnsteig gelöscht und expediert; nur den Weichenstellern und Bahnwärtern einsichtbar. In den kleineren Stationen gab es ebenfalls auserkorene Plätzchen, tote Geleise zwischen zwei Lagerhäusern, wo der Rabe im Rückwärtsgang bis genau an die Trittbretter des Sak-Waggons herangeschoben wird. Der Häftling hat keine Zeit, sich den Bahnhof anzusehen, auf Sie und auf den Zug einen Blick zu werfen, es langt gerade für die Stufen (oft reicht ihm die unterste bis zum Gürtel, woher nimmt er die Kraft, hinaufzuturnen?). Die Wachen aber, die den schmalen Gang vom Raben zum Waggon umstellen, kläffen, lärmen: «Schnell! Schnell! … Dawai! Dawai …! » Sei noch froh, wenn’s ohne Bajonett abgeht.
    Und die Leute, Sie darunter, die mit Kindern, Koffern und Einkaufstaschen über den Bahnsteig hasten, haben’s zu eilig, um zu ergründen: Wozu der zweite Gepäckwagen am Zug? Kein Schild ist drauf, und ganz wie der andre sieht er aus, bloß schräge Gitterstäbe sind an den Fenstern – und Dunkelheit dahinter. Bloß Soldaten, stramme Vaterlandsverteidiger, steigen, wer weiß, warum, hinzu und marschieren, zwei Mann, an den Haltestellen rund um den Waggon, mit wachsamen Blicken unters Fahrgestell.
    Der Zug fährt an – und trägt die hundert zusammengepferchten Sträflingsschicksale, die hundert gepeinigten Herzen über dieselben verschlängelten Gleise, hinter derselben Rauchfahne einher, an denselben Feldern, Masten und Scheunen vorbei, und bringt sie gar um einige Sekunden früher ans Ziel, aber es hinterläßt das vorüberhuschende Leid in der Luft hinter Ihrem Fenster noch viel weniger Spuren als ein Finger, der übers Wasser streicht. Und im wohlbekannten, immer gleichen Zugsalltag – Bettwäsche aufschnüren, heißen Tee beim Schaffner bestellen –, wie sollten Sie sich’s denken können, das dunkle gepreßte Entsetzen, das drei Sekunden zuvor am gleichen Punkt des Euklidischen Raums vorbeigesaust war? Der Sie über die Enge des Abteils verärgert sind, ach, alle vier Plätze belegt! – Wie sollten Sie glauben (und ob Sie’s jetzt über dieser Zeile glauben?), daß in einem gleichen Abteil eben vor Ihnen vierzehn Mann dahingebraust sind? Und vielleicht fünfundzwanzig? Und dreißig? …
    Wahrscheinlich wurde diese Art Waggon unter Minister Stolypin, demnach vor 1911, erstmals auf die Reise geschickt. Die vereinte kadettisch-revolutionäre Erbitterung trug Schuld darin, daß der Name fortan an ihm kleben blieb. Zu rechten Ehren kam der Waggon allerdings erst in den zwanziger Jahren; allgemein und ausschließlich angewandt wurde er erst ab 1930, als die

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