Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
anderen angepaßt werden, man schaffe einen dauernden Ausgleich …
Besitzlosigkeit! Besitzlosigkeit predigten uns Buddha und Christus, die Stoiker und die Zyniker. Warum findet sie bloß bei uns Habgierigen noch immer kein Gehör, die einfache Mahnung? Warum woll’n wir nicht begreifen, daß der Besitz unsere Seele verdirbt?
Dies besitze, was auf allen Fahrten bei dir bleibt: Kenne Sprachen, kenne Länder, kenne Menschen. Als Reisesack diene dir dein Gedächtnis. Vergiß nichts! Vergiß nichts! Nur diese bitteren Samen werden allenfalls irgendwann in die Höhe sprießen.
Sieh dich um, Menschen umgeben dich. An jenen dort wirst du dich vielleicht dein Leben lang erinnern, dann beißt du dir die Ohren ab, daß du ihn nicht ausgefragt hast. Und sprich weniger – so hörst du mehr. Von Insel zu Insel ziehen sich über den Archipel die feinen Strähnen der menschlichen Leben. Sie winden sich, berühren einander eines Nachts in solch einem ratternden halbdunklen Waggon und laufen danach für ewig auseinander – du aber lege dein Ohr an ihr stilles Schwirren und horche auf das gleichmäßige Pochen unter dem Waggon. Denn es ist die Spindel des Lebens, was du pochen und schnurren hörst.
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Die Häfen des Archipels
Beschaffen Sie sich eine weitläufige Karte unserer Heimat und breiten Sie sie auf einem großen Tisch aus. Setzen Sie fette schwarze Tupfen auf alle Gebietszentren, auf alle Eisenbahnknotenpunkte, alle Umschlagplätze, wo ein Streckengeleise an einem Fluß zu Ende geht oder ein Fluß eine Biegung macht und ein Fußpfad seinen Anfang nimmt. Sie trauen Ihren Augen nicht? Lauter Pestfliegen sitzen auf dem Papier. Es ist die pompöse Karte der Häfen des Archipels, was Sie nun in Händen halten.
Selten ist ein Sek zu finden, der nicht drei bis fünf Etappenpunkte kennengelernt hat, viele erinnern sich an ein Dutzend, die Söhne des GULAG zählen ohne Mühe ein halbes Hundert auf. Bloß daß sie einem im Gedächtnis durcheinandergeraten, wegen der vielen Ähnlichkeiten, die da sind: rüpelhafte Bewacher; dämliches Aufrufen nach Akten; langes Warten im prallen Sonnenschein oder im herbstlichen Nieseln; noch längeres Filzen bis auf die Haut; unappetitliches Haarschneiden; kalte glitschige Banjas; stinkende Abtritte, muffige Gänge, ewig enge, stickige, fast immer dunkle und feuchte Zellen; die Wärme menschlicher Leiber zu deinen beiden Seiten, ob auf dem Boden oder auf den Pritschen; die Kanten des aus Brettern gezimmerten Kopfendes; schlecht gebackenes, fast breiiges Brot; die Balanda, unsre Gefängnisjauche, die sie, scheint’s, aus Silofutter kochen.
Wer aber ein klares Gedächtnis besitzt, eines, dem sich die Erinnerungen einzeln und scharf einprägen, der kann sich fortan das Reisen ersparen: Dank der Durchgangsgefängnisse hat er die ganze Geographie unseres Landes im Kopf. Nowosibirsk? Kenn ich, bin dort gewesen. Feste Baracken, wie Blockhäuser aus dicken Stämmen gebaut. Irkutsk? Das ist, wo die Fenster mehrmals zugemauert wurden, da siehst du, wie’s unterm Zaren war, und danach jede Mauerung einzeln und was schließlich an Luftlöchern blieb. Wologda? Ja, ein altes Gemäuer mit Türmen. Die Aborte liegen übereinander und die Holzdecken sind morsch, da tröpfelt’s von den oberen auf die unteren. Usman? Na klar! Ein lausiger stinkiger Knast, altes Mauerwerk mit Gewölben. Und sie stopfen es auch noch randvoll: Wenn eine Partie auf Schub gebracht wird, kannst du es gar nicht glauben, daß die allesamt drin waren, die Kolonne zieht sich durch die halbe Stadt.
Seien Sie nicht vorlaut bei solch einem Kenner, hüten Sie sich, ihm zu sagen, Sie wüßten eine Stadt ohne Durchgangsgefängnis. Klipp und klar wird er Ihnen beweisen, daß es derlei Städte nicht gibt – und recht behalten.
Ja, versteh doch, Menschenkind, es kann keine Stadt ohne Durchgangsgefängnis geben! Als ob nicht in jeder Stadt Gerichte säßen?! Als ob man die Leute per Luft ins Lager expedieren könnte?!
Stets überlastet und offenherziger als viele andere war das Durchgangslager von Kotlas. Überlastet war’s darum, weil es den ganzen europäischen russischen Nordosten erschloß, und offenherziger, weil bereits tief im Archipel liegend, wo jede Tarnung überflüssig erschien. Ein Stück nackter Erde war es einfach, mit vielen einzeln umzäunten und allesamt versperrten Koppeln. Obwohl das Lager schon in den frühen dreißiger Jahren den großen Schub der zwangsverschickten Bauern aufnahm (denen sicherlich kein Dach übern
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