Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Außenstelle für Strafversetzte, wo die Verarztung Tötung bedeutet. In der dortigen Golgatha-Kirche liegen sie zusammengezwängt, die an Nahrungsmangel, an Mißhandlungen zugrunde gehen: erschöpfte Priester neben Syphilitikern, greise Invalide neben jungen Urkas. Auf Drängen der Sterbenden und um sich die Arbeit zu erleichtern, verabreicht der Golgatha-Arzt den hoffnungslosen Fällen Strychnin, die bärtigen Leichen bleiben im Winter lange in der Kirche liegen. Später werden sie in die Vorhalle gebracht, dort an die Wand gelehnt – so nehmen sie weniger Platz weg. Schließlich braucht man sie nur noch vom Golgatha-Berg hinunterzuwerfen.
Es wird berichtet, daß die Häftlinge auf der Krasnaja Gorka (Karelien) im Dezember 1928 zur Strafe (Nichterfüllung der Norm) im Wald übernachten mußten – und hundertfünfzig Menschen froren zu Tode. Es war dies eine übliche Solowezker Methode, kein Grund also, den Bericht anzuzweifeln.
So verfiel unmerklich – an den Arbeitsaufträgen scheiternd – das frühere Konzept eines auf den Inseln abgeschiedenen Lagers zur besonderen Verwendung. Der auf den Solowki geborene und herangereifte Archipel begann seine bösartige Ausbreitung über das Land.
Ein Problem war zu lösen: das Territorium dieses Landes vor dem Archipel auszubreiten und es ihn doch nicht erobern, nicht mitreißen zu lassen, nicht zu dulden, daß er es sich zu eigen und zu seinem Ebenbild machte; jedes Inselchen des Archipels, jeden Hügel in seinem Morast in die Feindseligkeit der sowjetischen Dünung zu betten. Eingesprenkelt liege die eine Welt in der anderen, doch daß sich beide niemals vermischen!
Nun, nachdem der Archipel sich auszudehnen begonnen hatte, mehrten sich die Ausbrüche: Holzschlag und Straßenbau waren mörderisch – und der Ausbrecher hatte immerhin festes Land unter den Füßen und ein klein wenig Hoffnung.
Wie aber von den Solowki fliehen? Ein halbes Jahr lang liegt das Meer unter Eis, aber die Eisdecke ist nicht völlig geschlossen, hier und dort bricht Wasser durch, dazu die Schneestürme, die nagende Kälte, der Nebel und die Finsternis. Im Frühjahr aber und bis tief in den Sommer hinein kommen der Küstenwacht die Weißen Nächte zunutze. Erst wenn die Nächte länger werden, im Spätsommer und Herbst, beginnt die günstige Zeit. Im Kreml freilich kannst du dir kein Boot oder Floß bauen, aber in einer Außenstelle, irgendwo im Wald am Ufer, geht es manchmal, wenn du Zeit und Bewegungsfreiheit hast, und eines Nachts dann machst du dich fort (auch einfach rittlings auf einem Baumstamm), ruderst einfach drauflos und wünschst dir sehnlichst, einem ausländischen Schiff zu begegnen. Bald erfährt es die ganze Insel: Die Wachen laufen aufgeschreckt hin und her, die Schnellboote werden flottgemacht – und freudige Erregung bemächtigt sich der Seki, grad als wäre ihnen selber die Flucht geglückt. Flüsternd geht es von Mund zu Mund: Hat man ihn schon? Ist er fort? … Sicherlich sind viele ertrunken, ehe sie irgendwo Land erreichten. Manch einer kam vielleicht bis ans karelische Ufer – und tauchte unter, totgeglaubt für immer.
Die berühmte Flucht nach England wurde jedoch von Kern aus unternommen. Dieser Draufgänger (sein Name ist uns nicht bekannt, so eng ist unser Horizont!) sprach Englisch und verheimlichte es. Es gelang ihm, nach Kern zur Holzverladung zu kommen, na, und mit den englischen Matrosen hatte er sich bald verständigt. Die Wachen entdeckten das Manko, hielten den Frachter fast eine Woche lang zurück, durchsuchten ihn mehrmals – und fanden den Ausbrecher nicht. (Wie sich herausstellte, wurde er bei der Durchsuchung an der Ankerkette über die dem Pier abgekehrte Bordwand ins Wasser getaucht, im Mund ein Röhrchen für die Luftzufuhr. Eine enorme Konventionalstrafe war für die Verzögerung zu erwarten, schließlich kamen sie überein, den Häftling als ertrunken zu betrachten, und gaben den Dampfer frei.)
Und es erschien in England 1926 das Buch An Island Hell von S. A. Malsagoff (dem Vernehmen nach sogar in mehreren Auflagen).
Europa war von dem Buch überrascht (vermutlich warf man dem Verfasser Übertreibungen vor, ja, sie durften diesem verleumderischen Buch einfach nicht glauben, die Freunde der Neuen Gesellschaft!), denn es widersprach dem bereits bekannten Bild, den von der Roten Fahne beschriebenen paradiesischen Zuständen auf den Solowki (wir wollen hoffen, daß ihr Korrespondent später einmal den Archipel besuchte) und den in jenen Alben
Weitere Kostenlose Bücher