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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Bürgerkriegs» inhaftiert. Beide Ziffern, besonders die letztere, scheinen zu niedrig angesetzt. Bedenkt man allerdings, daß die Zählung infolge der Gefängnisentlastung, der Versenkung von Lastkähnen und sonstiger Arten von Massenvernichtung immer von neuem und viele Male wieder bei Null begann, dann könnten diese Ziffern vielleicht auch stimmen.
    An der Schwelle zur «Rekonstruktionsperiode» (also nach 1927) – was geschieht da mit den Lagern, was meinen Sie? Jetzt, nach all den Siegen? – «Die Bedeutung der Lager wächst, eine Waffe gegen die meist gefährlichen feindseligen Elemente und Schädlinge, gegen Kulakentum und konterrevolutionäre Agitation.»
    Der Archipel wird mithin nicht in den Meerestiefen versinken! Der Archipel wird leben!

2
Der Archipel steigt aus dem Meer auf
    Im Weißen Meer, wo die Nächte das halbe Jahr weiß sind, liegt die Große Solowezki-Insel und hebt weiße Kirchen, rundum vom Rostbraun der flechtenbewachsenen unbehauenen Kremlmauern eingefaßt, aus dem Wasser empor. Grauweiße Solowezker Möwen umkreisen unentwegt die Türme und stoßen spitze Schreie aus.
    «Diese Helligkeit ist gleichsam ohne Sünde … Diese Natur ist gleichsam noch nicht zur Sünde gereift» – so wirken die Solowezki-Inseln auf Michail Prischwin.
    Ohne uns waren jene Inseln aus dem Meer erstanden, ohne uns mit zweihundert fischreichen Seen ausgestattet, ohne uns mit Auerhähnen, Hasen, Hirschen bevölkert worden, aber Füchse, Wölfe und andere Raubtiere, die fehlten von jeher.
    Die Gletscher kamen und gingen, granitene Rollsteine blieben rund um die Seen zurück; die Seen froren in der Solowezker Winternacht zu; das Meer toste, und der Wind peitschte Eisbrei aus seinen Wellen hoch; hier und dort gefror er zu einer festen Schicht; über den halben Himmel loderte das Polarlicht – bis es wieder heller wurde, bis es wieder wärmer wurde, und die Stämme der Tannen dicker wurden. Da balzten und kollerten dann die Wildhühner, da röhrten die jungen Hirsche, der Planet flog durchs All mitsamt seiner Weltgeschichte, alte Reiche zerfielen und neue entstanden – hier aber gab es noch immer keine Raubtiere und noch immer keine Menschen.
    Manchmal gingen Nowgoroder an Land, erklärten die Inseln zu ihrem Besitz und zählten sie verwaltungsmäßig der Oboneschsker Pjatina zu. Auch Karelier verschlug es hierher. Ein halbes Jahrhundert nach der Schlacht auf dem Kulikower Feld und ein halbes Jahrtausend vor der GPU setzten zwei Mönche, Savatius und German, über das perlweiße Meer, und weil die Insel ohne Raubtiere war, galt sie ihnen als heiliges Land. Sie waren es, die das Kloster gründeten …
    Der Kriegsgedanke. Das durfte nicht sein, daß irgendwelche unvernünftigen Mönche auf einer nichts als einfachen Insel nichts als einfach dahinlebten. Denn es lag die Insel an der Grenze des Großen Reiches, und wenn man mit den Schweden, Dänen, Engländern Krieg führen mußte, gehörte eine Festung hierher, mit acht Meter dicken Mauern, mit acht Türmen darauf, mit schmalen Schießscharten darin; ja, und der Glockenturm, der gewährte den Ausguckern die Fernsicht.
    Der Gefängnisgedanke. Wie trefflich das zu nutzen ist: feste Steinmauern auf einer abgelegenen Insel! Gut Sitz für wichtige Verbrecher, gut Einsatz für die Mönche dort. Wollt ihr uns brav die Gefangenen hüten, dann dürft ihr ungestört ihre Seelen retten.
    Ob Savatius solches im Sinn hatte, als er seinen Fuß auf die heilige Insel setzte? …
    Eingesperrt wurden hier kirchliche Ketzer, eingesperrt auch politische Ketzer …
    Als aber die Macht in die Hände der Werktätigen überging – was sollte man da mit diesen böswilligen Schmarotzern, den Mönchen? Kommissare wurden hingeschickt, sozialerprobte Führungskader, die Klostergründe in Staatsgut umbenannt, und die Mönche angewiesen, weniger zu beten und mehr zu schaffen, zum Wohle der Arbeiter und Bauern. Die Mönche schafften, und der wunderbar schmackhafte Hering, den sie dank ihrer besonderen Kenntnis der günstigsten Fangorte und -zeiten in ihre Netze holten, wurde für die Kremltafel nach Moskau gebracht.
    Freilich, die vielen Kostbarkeiten, die im Kloster und besonders in der Sakristei angehäuft waren, stachen manch einem neuen Macht-und Anleitungsbefugten ins Auge: Statt in werktätige (in ihre ) Hände überzugehen, lagen die Schätze als totes religiöses Kapital brach. Und so wurde denn, in gewissem Widerspruch zum Strafgesetz, jedoch in voller Übereinstimmung mit dem Geist der

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