Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
ein Wort: WRIDLO (das Kurzwort für provisorischer Pferdevertreter ).
    Von anderen Solowkianern erfährt er noch Schlimmeres, als seine Augen wahrnehmen können. Man nennt ihm das fatale Wort Sekirka, das steht für Sekirnaja gora, den Axtberg. Dort, in der zweigeschossigen Kirche sind die Karzer untergebracht. Und wer damit bestraft wird, muß den ganzen Tag auf handbreiten Holzstangen sitzen, die von einer Wand zur anderen gezogen sind. (Das Nachtlager ist auf der Erde, obendrein liegt einer am anderen, wegen der Überfüllung.) Die Stange ist so hoch angebracht, daß die Füße nicht bis zum Boden reichen. Die Balance zu halten fällt einem nicht leicht, der Häftling ist den ganzen Tag bemüht, nur ja nicht herunterzufallen. Denn dann springt der Wärter herbei, und es setzt Prügel. Oder da heißt’s: Alles raus, zur Treppe mit den 365 steilen Stufen (von der Kirche zum See, ein Werk der Mönche), dort wird der Bestrafte, wegen des Gewichts, der Länge nach an einen Balan, einen Baumstamm, gebunden und querliegend hinuntergestoßen (kein einziger Treppenabsatz zwischendurch, und die Stufen sind so steil, daß der Stamm mit dem Menschen von keiner aufgehalten wird).
    Aber um eine Kostprobe von den Stangen zu bekommen, braucht einer nicht erst auf die Sekirka zu wandern, die gibt es auch im kremleigenen, stets überfüllten Karzer. Oder sie stellen dich auf einen kantigen Feldstein, versuch mal, das Gleichgewicht zu halten. Oder im Sommer «auf Baumstümpfe», das heißt: nackt, den Mücken zum Fraß. In diesem Fall muß der Bestrafte unter Aufsicht bleiben; bindet man ihn hingegen nackt an einen Baum, werden die Mücken allein mit ihm fertig. Oder man zwingt ganze Kompanien, wegen eines Vergehens im Schnee zu liegen. Oder sie treiben einen Menschen bis zum Hals in den Seemorast hinein, da hat er bis auf weiteres zu bleiben. Oder eine andere Methode: Ein Pferd wird vor die leere Deichsel gespannt; an die Deichselenden binden sie die Füße des armen Sünders, ein Wachsoldat steigt aufs Pferd und peitscht es über einen Kahlschlag – so lange, bis das Stöhnen und Schreien hinter ihm verstummt ist.

    Also waren alle Ängste nur ein Scherz!? Doch – «Auseinander! Auseinander!» schallt es am hellichten Tag über den dichtbevölkerten Kremlhof (was ist dagegen ein Petersburger Sonntagskorso?!), und drei dandyhafte junge Männer mit narkomanischen Gesichtern (der vorderste treibt die Menge nicht mit dem Dryn, sondern mit einer Reitgerte auseinander) zerren eilig ein Bündel Mensch mit baumelnden Beinen und Armen übers Pflaster – schrecklich ist es, sein wie Flüssigkeit herabrinnendes Gesicht zu sehen – hin zum Glockenturm, unter das Gewölbe, zur Tür am Fuße des Turms. Sie schieben ihn durch diese kleine Pforte und schießen ihm ins Genick: Dahinter führt eine steile Treppe abwärts, er wird runterpurzeln, und so können sie gleich sieben, acht Menschen erledigen, ehe sie ein Kommando schicken, um die Leichen heraufzuholen, und Frauen (Mütter und Frauen der nach Konstantinopel Geflohenen; Gläubige, die nicht abtrünnig wurden und ihre Kinder nicht gegen den Glauben aufhetzen lassen wollten), um die Stufen zu waschen.
    Ja, war es denn nicht in der Nacht möglich, ohne Aufsehen? Wozu denn ohne? Da verkäme ja die Kugel für nichts und wieder nichts. Im Tagesgetümmel gewinnt die Kugel einen erzieherischen Wert. Sie trifft gleichsam ein Dutzend – eine einzige.
    Auch anders wurde erschossen – direkt auf dem Onufrij-Friedhof hinter der Frauenbaracke (dem ehemaligen Hospiz für Wallfahrerinnen) –, und jener Weg, der um die Frauenbaracke führte, hieß denn auch: Erschießungsweg. Da konnte man sehen, wie winters ein Mann über den Schnee geführt wurde, barfuß und bloß in der Unterwäsche (nicht um ihn zu martern, nein, um Kleidung und Schuhwerk nicht unnütz verderben zu lassen!), die Hände mit einem Draht hinterm Rücken gefesselt; er schreitet stolz und aufrecht und raucht, nur mit den Lippen, ohne Hilfe der Hände, seine allerletzte Zigarette.
    1930 begann eine neue Lagerära, und es waren die Solowki nicht mehr die Solowki, sondern ein gewöhnliches «Besserungsarbeitslager». Da stieg der schwarze Stern Naftalij Frenkels, des Ideologen dieser Ära, auf, und seine Formel wurde zum obersten Gesetz des Archipels:
    «Aus dem Häftling müssen wir alles in den ersten drei Monaten herausholen – danach brauchen wir ihn nicht mehr!»

    Die Golgatha-Kreuzigungs-Klause auf der Anser-Insel war eine

Weitere Kostenlose Bücher