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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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hat es also bemerkt, hat es erraten! Und wird uns nicht verlassen! Uns in Schutz nehmen!
    Sie fuhren in die Kinderkolonie. Welch eine Augenweide! Jeder hatte ein eigenes Bett, eine Matratze. Große Verlegenheit, allseits Zufriedenheit. Plötzlich meldete sich ein vierzehnjähriger Junge: «Hör zu, Gorki! Was du da siehst, ist alles Lüge. Willst du die Wahrheit wissen? Soll ich sie dir erzählen?» Ja, nickte der Schriftsteller. Ja, er wolle die Wahrheit wissen. (Ach Junge, Junge, warum störst du das eben erst sich etablierende Wohlbefinden des literarischen Patriarchen! … Ein Palais in Moskau, ein Gut auf dem Land …) Und es wurden alle, die Kinder genauso wie die begleitenden GPUler, angewiesen, den Raum zu verlassen, und der Junge saß anderthalb Stunden bei dem hageren Greis – und erzählte. Gorki kam tränenüberströmt aus der Baracke. Eine Kutsche fuhr vor, ihn zum Mittagsmahl in die Villa des Lagerkommandanten zu bringen. Die Kinder stürzten in die Baracke: «Hast du von den Mücken erzählt?» – «Hab ich.» – «Von den Stangen?» – «Hab ich.» – «Von den WRIDLOs?» – «Hab ich.» «Und wie sie einen die Treppe runterwerfen? … Und von den Säcken? … Von den Nachtlagern im Schnee? …» Alles-alles-alles hat der wahrheitsliebende Junge erzählt!!!
    Wir aber wissen nicht einmal, wie er hieß.
    Am 22. Juni, schon nach dem Gespräch mit dem Jungen, trug sich Gorki in das eigens für diesen Anlaß angefertigte handgebundene Gästebuch ein:
    «Ich fühle mich außerstande, meine Eindrücke in wenige Worte zu fassen. Schablonenhaftes Lob widerstrebt mir, es würde mich auch beschämen [!], abgedroschene Worte für die erstaunliche Energie der Menschen zu verwenden, die als unermüdliche und wachsame Beschützer der Revolution gleichzeitig auch wunderbar mutige Schöpfer der Kultur zu sein vermögen.»
    Am 23. Juni fuhr Gorki fort. Das Schiff war kaum außer Sicht, als der Junge erschossen wurde. (Der Herzenskundige! Der Menschenkenner! Wie hat er den Jungen zurücklassen können?!)
    Davon nährt sich in der neuen Generation der Glaube an die Gerechtigkeit.
    Man munkelt, daß sich das Haupt der Literatur dort oben noch drücken wollte, nicht gleich bereit war, das Lob auf den USLON zu publizieren. Aber wieso denn, Alexej Maximowitsch? … Denken Sie doch an das bürgerliche Europa! Und gerade jetzt, gerade in diesem Augenblick, wo alles so gefährlich und kompliziert … Ach, das Regime? – Wir schaffen ein neues, ein neues Regime.
    Und es wurde ab-und nachgedruckt, in der großen freien Presse, der unsrigen und der westlichen, durch den Namen des Falken und Sturmvogels belegt: daß die Solowki zu Unrecht als Schreckgespenst galten, daß sich die Häftlinge dort eines herrlichen Lebens samt einer herrlichen Erziehung erfreuten.

3
Der Archipel siedelt Metastasen ab
    Nein, nicht für sich allein entwickelte sich der Archipel, sondern Wange an Wange mit dem ganzen Land. Solange es im Lande Arbeitslosigkeit gab, scherte man sich herzlich wenig um die Arbeitskraft der Häftlinge, und die Verhaftungen liefen nicht unter der Parole der Arbeitskraftmobilisierung, sondern unter jener der Wegbereitung: Fort mit allem, was uns stört! Als man aber darauf verfiel, die gesamten 180 Millionen wie mit riesigen Schaufeln durcheinanderzumischen, als der Plan der Überindustrialisierung verworfen wurde und statt dessen die Über-Über-ÜberIndustrialisierung durchgepeitscht werden sollte, als bereits die Liquidierung des Kulakentums und das Massenaufgebot für den ersten Fünfjahresplan ins Auge gefaßt worden war – da änderte sich auch, an der Schwelle des Jahres des Großen Umhiebs, die Einstellung zum Archipel und alles im Archipel.
    Am 26. März 1928 beriet der Sownarkom (noch unter dem Vorsitz von Rykow) den Fragenkomplex Strafpolitik sowie den Zustand der Strafverbüßungsorte im Lande. In bezug auf die Strafpolitik ward die Situation als nicht zufriedenstellend befunden, man faßte den Beschluß, gegenüber den klassenfeindlichen und -fremden Elementen die härtesten Repressionsmaßnahmen zu ergreifen und das Lagerregime zu verschärfen (hingegen bei den soziallabilen Elementen auf Haftfristen überhaupt zu verzichten); die Zwangsarbeit auf eine Weise zu organisieren, die den Häftlingen keinen Lohn beließ, dem Staat jedoch eine wirtschaftliche Rentabilität garantierte; und schließlich «die Erweiterung der Aufnahmekapazität von Arbeitskolonien in Angriff zu nehmen». Mit simplen Worten gesagt:

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