Der Arzt von Stalingrad
Doktor Kresin von dem Penicillin? Sollte er lügen? Sollte er die Wahrheit sagen?
»Wie soll denn das Medikament ausgesehen haben?«
»Weiß, Herr Doktor! Es war Penicillin! Ein amerikanisches Präparat, das wir als Militärlieferung erhalten. Wie kommen Sie an dieses Pulver?«
»Es war in unserer Lazarett-Apotheke.«
»Es steht aber auf keiner Ihrer Bestandslisten verzeichnet.«
»So?« Dr. Schultheiß hob bedauernd die Schultern. »Das ist vielleicht ein Fehler, der leicht zu berichtigen ist. Schreiben Sie bitte dazu: Eine große Dose mit Penicillin-Pulver.«
Dr. Kresin grinste. »Und wann geliefert, mein Junge?«
»Das weiß ich nicht …«
Major Worotilow, der jetzt an Stelle von Markow am Fenster stand, drehte sich herum und wippte mit den Fußspitzen auf dem Dielenboden.
»Sie haben also auch das Penicillin gestohlen!«
Dr. Schultheiß erkannte die Falle, die man ihm gestellt hatte. Er hatte keine Wahl mehr – entweder er verriet die Kasalinsskaja, oder er nahm den Diebstahl auf sich. Man hatte ihn, den Jüngsten der Ärzte, ausgefragt, weil er am ängstlichsten und weichsten war …
»Ich bitte Sie, auch mir für eine Woche das Brot zu entziehen«, sagte er leise.
»Nein.« Worotilow trat näher und beugte sich über den jungen Arzt. Ein Geruch von Juchtenleder, Machorka und Schweiß strömte von ihm aus. »Ich müßte Sie bestrafen, Doktor, weil Sie so wenig Vertrauen haben. Sie dürfen mich nicht mit Markow verwechseln.« Er richtete sich auf. Der beißende Geruch verlor sich etwas. »Ich will gar nicht wissen, woher Sie das Penicillin hatten. Aber ich rechne auch mit Ihrer Verschwiegenheit in anderen Dingen. Sie sind Arzt … Sie kennen doch keinen Unterschied bei Ihren Patienten.«
Dr. Schultheiß wandte ihm den Kopf zu. »Was haben Sie vor, Herr Major …«
»Sie werden mit mir nach Stalingrad fahren. Und Sie werden dort jemanden untersuchen, der mir sehr nahesteht …«
»Eine Frau?« fragte Dr. Schultheiß ahnungsvoll.
»Ja. Dr. Kresin behandelt sie, aber er riet mir, Sie hinzuzuziehen.« Worotilow sah Dr. Schultheiß aus seinen kleinen dunklen Augen scharf an. Es war wie eine letzte Musterung beim Kauf eines Pferdes. »Es wird niemand erfahren, wo Sie hinfahren, Doktor«, sagte er mehr wie zu sich selbst. »Auch nicht Dr. Böhler.«
»Nein, Herr Major.«
»Wenn Sie sie gesund machen, können Sie von mir haben, was Sie wollen.« Ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Nur nicht die Freiheit …«
Dr. Kresin schaltete das Licht ein. Die Nacht war über das Lager hereingebrochen. In einer der Baracken hörte man das Brüllen Leutnant Markows. Ein warmer Wind kam von Westen und trieb den Staub durch die Lagerstraßen. Es roch nach Erde und Rauch, als habe in der Nähe ein Wald gebrannt.
»Morgen früh fahren wir«, sagte Worotilow laut. »Dr. Kresin wird Sie abholen.«
A US DEM T AGEBUCH DES D R . S CHULTHEISS :
Wenn diese Nacht doch bald vorüber wäre …
Der Oberfähnrich schläft, endlich schläft er. Auf seinen eingefallenen Wangen und in den Augenwinkeln liegen noch die Tränen. Seine Brust wird von Schluchzen geschüttelt. Vor einer halben Stunde schaute die Kasalinsskaja hinein und gab mir eine große Ampulle Morphium für ihn. Noch immer ist der Leib stark aufgetrieben und hart.
Aber jetzt schläft er, ruhig und gleichmäßig geht sein Atem. Der Puls ist fast normal, und das ist es, was mich stutzig macht.
Vor einer Stunde noch lag er hier und weinte. Er hatte meine Hand ergriffen, und ich hielt seine heißen, zuckenden Finger und beugte mich über ihn. In seinen Augen lag die nackte Angst, sie starrten mich übergroß an, geweitet in grauenhaftem Entsetzen.
»Muß ich sterben, Doktor?« schluchzte er. »Muß ich denn wirklich sterben? Ich bin erst 23 Jahre alt …«
»Wer sagt denn, daß du sterben mußt?«
»Ich fühle es. Mein Leib … mein Leib … es ist wie Feuer! Als wenn man ihn ausbrennt …«
»Wir haben dich operiert. Du hattest einen dicken, vereiterten Blinddarm, den haben wir dir weggeschnitten. Und jetzt wird alles gut …«
Er faßte wieder nach meiner Hand. »Ich werde sterben«, flüsterte er, während ich seine aufgesprungenen Lippen mit einem feuchten Lappen kühlte, denn trinken durfte er ja nichts. »Es wird meine Buße sein … meine Buße …« Seine Stimme verlosch, in seine Augen trat jener weite Blick, der mich erschrecken läßt, wenn ich ihn sehe.
»Du hast doch mit deinen 23 Jahren nichts zu büßen«, sagte ich tröstend.
»Ich war
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