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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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feig!« Er schrie es mit solcher Heftigkeit heraus, daß ich zurückprallte und Mühe hatte, ihn auf sein Lager zurückzudrücken. »Mit 19 kam ich von der Kriegsschule … aus Potsdam und Eberswalde. Als Oberfähnrich nach Stalingrad … drei Monate Frontbewährung, dann war ich Offizier, ein junger Leutnant, auf den mein Vater stolz gewesen wäre. Ich ging hinaus nach Rußland und warf mich in den Dreck von Stalingrad. Ich wollte tapfer sein, ich wollte in Ehren heimkehren. Und ich übernahm eine Kompanie und grub mich an der Traktorenfabrik ein … Dann trommelten sie … sie trommelten Tag und Nacht … ohne Unterbrechung, ohne Stillstand, ohne einmal Atem zu schöpfen … sie trommelten, Meter um Meter pflügten sie den Boden um, sie ließen nichts aus … sie trommelten aus Tausenden Geschützen, und dann stürmten sie … wie Ameisen, erdbraun gefärbt, krochen sie aus den Löchern und Bunkern, aus den Trümmern und verbogenen Stahlgerüsten. Uuuuurääääh schrien sie … dieses schreckliche Uuuuurääääh, das bis ins Mark geht … Tataren und Mongolen, Kirgisen und Kalmücken … sie stürmten auf uns zu und schrien beim Laufen, während unsere Maschinengewehre sie umtobten. Ich lag in meinem Loch, meine silbernen Litzen leuchteten, ich war ja Oberfähnrich und Kompanieführer … sie blickten auf mich. Ich aber lag in meinem Loch und hatte Angst, hundsgemeine Angst! Wissen Sie, Doktor, was Angst ist? Wenn man nicht mehr atmen kann, wenn das Herz aussetzt, wenn der Puls rast? Und dort kam der Russe, der keine Gefangenen macht und den Verwundeten die Augen aussticht … Wir haben es ja geglaubt, wir Jungen von der Kriegsschule, wir Abiturienten, die wir nur die Silbertressen sahen, aber nicht, was dahintersteckt. Und nun kamen sie auf mich zu … Hunderte von diesen braunen Teufeln, und sie kamen näher, immer näher … Da habe ich die Arme hochgehoben … ich, der Oberfähnrich Graf Burgfeld, der Kompanieführer … ich habe die Arme hochgehoben und vor Angst geschrien, während neben mir ein MG stand mit 10.000 Schuß Munition. 10.000 Schuß! Und sie kamen heran wie die Figuren auf einem Schießplatz, ich brauchte nur abzudrücken, und sie fielen um. Aber ich tat es nicht, ich konnte es nicht … ich schrie vor Angst und hob die Arme hoch. Ich, der Kompanieführer … aber ich war erst 19 Jahre alt …« Er warf den Kopf zur Wand hin und begann wieder haltlos zu schluchzen. »Und dafür büße ich jetzt … für meine Feigheit, für meine Angst … und ich weiß, daß ich sterben werde … sterben muß!«
    Ich konnte ihm nicht helfen. Ich konnte nur seine heiße, zuckende Hand halten und sie immer wieder streicheln.
    Gegen vier Uhr morgens wurde der Kranke plötzlich sehr unruhig, klagte über heftige Schmerzen im Oberbauch, bekam einen Schluckauf, der ihn jedesmal vollkommen durchschüttelte, und fing an zu brechen. Es war ein Brechen, das ohne Würgen und ohne Anstrengung vor sich ging. Es sprudelte den Mageninhalt einfach oben heraus.
    Ich erschrak zu Tode, denn auch der Puls war plötzlich sehr schlecht, und der Kranke sah verfallen aus, mit eingesunkenen Augen und fahler Gesichtsfarbe.
    Ich rannte aus dem Zimmer und klopfte bei Dr. Sellnow. Er kam im Hemd und eilte an das Bett des Oberfähnrichs. Ein Blick genügte ihm, um ihn in seiner bekannten Art fluchen zu machen.
    »Eine Schweinerei«, schrie er unbeherrscht, »aber das war ja vorauszusehen, daß das in diesem Sauladen nicht anders gehen würde. Wir müssen den Chef holen.«
    »Ist es ganz hoffnungslos?« fragte ich leise.
    Er muß aus meiner Stimme die Angst herausgehört haben, denn er sah mich groß an.
    »Warum? Haben Sie noch nie einen Menschen sterben sehen?«
    »Keinen, bei dem es mir so nahegehen würde!«
    »Kennen Sie denn den Knaben?« Er deutete mit dem Kopf auf den stöhnenden Oberfähnrich.
    »Jetzt ja«, sagte ich zögernd.
    Die Drohung Worotilows fiel mir ein: »Wenn der Patient stirbt, werde ich Sie alle wegen Mordes melden!« Eine tierische Angst ergriff mich. Ich stand auf und rannte in dem engen Raum hin und her. Er darf nicht sterben! Er darf nicht! Er zieht uns ja alle mit in den Tod, uns alle …
    Dr. Böhler kam ins Zimmer, hinter ihm Sellnow, immer noch im Hemd. Auch die Kasalinsskaja erschien jetzt. Sie beugte sich neben Dr. Böhler über den Stöhnenden.
    »Wieder aufmachen?« fragte sie leise.
    »Wird wohl nichts anderes übrigbleiben«, erwiderte Dr. Böhler kurz und richtete sich auf.
    Böhler, Sellnow und die

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