Der Arzt von Stalingrad
Kasalinsskaja traten einige Schritte zurück und steckten die Köpfe zusammen.
»Schwierige Diagnose«, flüsterte Böhler. »Wahrscheinlich ist es eine Peritonitis mit Darmlähmung, aber es kann ebenso ein halbes Dutzend anderer Sachen sein.«
»Was denn?« fragte die Kasalinsskaja.
»Verstopfung eines Darmgefäßes, eine Arterien- oder eine Venenthrombose, eine akute Pankreatitis oder ein Ileus … Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich werde eine Probe-Laparotomie machen, und wir werden sehen; wahrscheinlich ist es doch eine Bauchfellentzündung mit Darmlähmung, und wir müssen einen Kunstafter anlegen. Glauben Sie, daß wir irgendwo Instrumente und Medikamente für eine Dauertropfinfusion oder eine Bluttransfusion auftreiben könnten?«
»Woher?« Die russische Ärztin zuckte mit den Schultern. Sie trug ein langes Nachthemd und darüber einen leichten Kimono.
»Fragen Sie bitte Dr. Kresin«, sagte Böhler, »er hat mir volle Unterstützung versprochen.«
Emil Pelz erschien mit zwei seiner Gehilfen, und sie hoben den immer noch stöhnenden Kranken auf die Tragbahre.
Dr. Böhler sah mich an. »Sie legen sich hin, Schultheiß«, sagte er streng, »ruhen Sie sich aus. Sellnow wird assistieren und die Ärztin. Sie werden dann die Pflege des Frischoperierten übernehmen.«
»Jawohl, Herr Stabsarzt.«
Die Bahre wurde hinausgetragen. Noch auf dem Flur vernahm ich das Wimmern des Jungen, des Kompanieführers mit neunzehn Jahren, der die Hände vor Angst hochhob, anstatt seine zehntausend Schuß zu verschießen …
Nun ist es früher Morgen, Dämmerung liegt über dem Lager. Dort, wo sich die Wälder zum Ural dehnen, bleicht der Himmel. Die Posten auf den Wachttürmen frieren … ich sehe es, weil sie die Arme gegen die Brust schlagen. In Rußland sind auch die Sommermorgen kalt …
Auf der Latrine in der Nähe der Küche ist schon Betrieb. Die zur Küche Eingeteilten schlurfen über den Platz. Bascha steht an der Tür. Sie lacht über ihr breites Gesicht … ihre starken Hüften zeigen sich unter dem dünnen Kleid.
Sogar Leutnant Markow ist schon auf … er sieht blaß aus und ist wieder schlechter Laune. Wann hat er je einmal gute Laune?
Jetzt ist die Sonne da … sie strahlt über den Platz, die Dächer der Baracken flimmern … Die Kolonnen der Nachtschicht rücken ein. Sie sind müde und torkeln vor Erschöpfung über den sandigen Platz. Tiere, die man zuschanden treibt. Atmende Gerippe … Der Oberfähnrich schläft wieder in seinem Bett.
Die zweite Operation ist gut verlaufen. Es war doch eine Bauchfellentzündung mit Darmlähmung. Aus seiner linken Seite läuft aus dem Drän immer noch Eiter in einen Haufen Mull.
Böhler hat einen Kunstafter angelegt, den er so lange tragen muß, bis die Bauchfellentzündung abgeklungen ist und die Därme ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Wenn es dazu überhaupt noch jemals kommen sollte. Aber jetzt schläft er ruhig.
Die Sonne ist jetzt schon warm, es wird ein heißer Tag werden. Ich habe Sehnsucht nach Vater und Mutter und möchte weinen.
Stalingrad, Tingutaskaja 43.
Ein niedriges, neues Haus mit blanken Fenstern in einem großen Garten, nahe an der in der Sonne glitzernden Wolga.
Rings um das kleine Haus die Gerüste der Neubauten: Fabriken, Arbeitersiedlungen, Kinos, Theater, Geschäfte der staatlichen Konsume, ein großes Gebäude der Partei, ein Denkmal für die Befreiung Stalingrads … Und dazwischen die Wolga wie fließendes Silber, breit, herrlich, still. Majestätisch in ihrer Unendlichkeit.
Dr. Kresin hielt den kleinen Jeep an und schob die Tellermütze in den Nacken. Er stieß Dr. Schultheiß in die Seite und nickte ihm zu.
»Hier sind wir. Ich will Ihnen noch einige Hinweise über Ihre Patientin geben. Janina Salja können Sie nichts vormachen. Seien Sie ehrlich zu ihr. Sie ist Leiterin der Sanitätsbrigade von Stalingrad. Sie weiß genau, was ihr fehlt, und hat mir selbst die Diagnose mitgeteilt: offene Tbc, im linken Obergeschoß eine dreirubelstückgroße Kaverne. Gewichtsverlust innerhalb eines halben Jahres zwanzig Pfund. Genügt das?«
»Haben Sie Aufnahmen?« fragte Dr. Schultheiß.
»Es liegen gute Röntgenbilder vor, die über die Krankheitsdauer hinweg aufgenommen sind«, nickte Dr. Kresin.
»Und was ist bisher getan worden?«
»Wenig: Ruhe, frische Luft, Liegekuren an der Wolga, gutes Essen, Sahne, frisches Gemüse und Lebertran. Es ist ein Versuch mit Tuberkulin gemacht worden, zur Bekämpfung des Hustenreizes bekommt die
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