Der Arzt von Stalingrad
schrie der Major. »Das zweite Mal! Erst im Lager ›Roter Oktober‹, jetzt im Straflager! Er liegt im Sterben …«
»Ich habe es geahnt«, sagte Dr. Böhler schwach. Also kamen doch alle Bemühungen zu spät. Man vergiftet einfach, was unbequem ist – das ist unauffälliger als ein Genickschuß oder das Zuschandentreiben eines Menschen auf dem Eis der Wolga. Bitterkeit stieg in ihm hoch. »Ich habe es geahnt, daß wir ihn nie wiedersehen. Weiß es die Kasalinsskaja?«
»Nein! Bloß das nicht!« Worotilow hob entsetzt die Hände. »Sie wird versuchen, sich wieder umzubringen. Das hat Zeit, bis Sellnow wirklich gestorben ist! Der Leutnant im Lager weigert sich, einen Arzt zu holen! ›Soll verrecken‹, hat er gesagt.«
»Haben Sie anderes erwartet, Major?« Wut und Trauer schnürten Dr. Böhler die Kehle zu. »Sie sind doch ein Verfechter der Macht um jeden Preis. Und wenn es das sadistische Austoben an einem wehrlosen Kranken ist …«
Worotilow sah Böhler kalt an. »Sie sind übermäßig erregt«, sagte er. »Ich hätte es Ihnen gar nicht sagen sollen!«
»Und was geschieht nun mit Sellnow?«
»Voraussichtlich wird er krepieren. Ich sage nicht sterben –«, Worotilow sah an die Decke, »ich sage krepieren, das kennzeichnet die wahre Situation.«
»Und es gibt keinen, der da eingreifen kann! Es gibt nur gesenkte Köpfe, die Befehle empfangen, und Speichellecken, aber es gibt keinen unter den ruhmreichen Rotarmisten und tapferen Offizieren, die für die Gerechtigkeit auch nur ein Wort riskieren!«
»Haben Sie es bei Hitler gekonnt?«
»Und haben Sie nicht Hitler gestürzt, eben weil wir das nicht konnten?! Befreiung des deutschen Volkes von der Knechtschaft des Tyrannen hieß doch die offizielle Rechtfertigung des Krieges!«
Worotilow lächelte hämisch. »Den Krieg haben Sie, die Deutschen, begonnen. Nicht wir! Sie sind in Polen eingefallen. Sie haben Belgien, Holland, Frankreich überrannt, Norwegen, Dänemark, Griechenland, Italien, Afrika, den Balkan und unser Mütterchen Rußland – trotz eines Freundschaftspaktes! Vergessen Sie das nicht! Auch Sellnow ist nur ein Opfer Ihres eigenen Systems! Nicht Rußland richtet ihn zugrunde, sondern Deutschland!«
Dr. Böhler antwortete nicht. Er sah auf Sergej Kislew, der dem Gespräch zuhörte, ohne ein Wort zu verstehen. Als Worotilow schwieg, blickte auch er Dr. Böhler an.
»Ich habe seinem Sohn geholfen«, sagte Dr. Böhler hart. »Gibt es in ganz Rußland keinen Menschen, der meinem Freunde hilft?«
Major Worotilow zuckte zusammen. Ein Gedanke ergriff ihn, ein Funken Hoffnung. Er schrie zur Tür hinaus auf den Platz vor der Kommandantur: »Macht den Wagen fertig! Sofort!«
Dann kam er zurück und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf Böhler. »Sie haben es gesagt! Das ist die einzige Möglichkeit! Ich werde bei Pawlowitsch um Sellnow bitten. Ihn wird man vorlassen – ihn allein! Pawlowitsch ist Stalinpreisträger und ›Held der Nation‹! Seine Bitten sind halbe Befehle. Ich fahre nach Stalingrad! Jetzt gleich! Vielleicht kann er Sellnow noch retten!«
Er stieß Kislew an, rief ihm etwas zu und rannte aus dem Zimmer. Im Laufen zog er sich den dicken Mantel an.
Dr. Kresin kam von den Blocks herüber. Er war mißgelaunt, denn der Ernährungszustand der Gefangenen war schlecht – es war ein schlimmer Winter geworden, schlimmer, als man ihn bei allem Pessimismus vorausgesehen hatte. Er sah Worotilow mit Kislew zu den Wagen rennen und stieß auf Dr. Böhler, der gerade die Kommandantur verließ.
»Wollen die zwei ein Autorennen veranstalten?« brummte er.
»Ja.«
Dr. Kresin riß die Augen auf. »Wohl verrückt, was?«
»Nein – sie rennen um ein Leben: Sellnow liegt im Sterben!«
»Das hat noch gefehlt!« schrie Dr. Kresin. »Haben sie ihn fertiggemacht?«
»Er ist vergiftet worden.«
»Gottverdammte Sauerei! Wenn ich kein Russe wäre, würde ich schreien: Ich scheiße auf euren Staat! Ich wandre aus! Aber ich bin Russe …« Er sah Dr. Böhler hilflos an. »Manchmal schäme ich mich meines Mütterchens …«, sagte er leise.
Dr. Böhler legte ihm die Hand auf den Arm. »Sie sind ein guter Kerl, Kresin. Daß es Sie in Rußland gibt – das wiegt vieles andere auf.«
»Blödsinn!« Dr. Kresin sah zu den beiden Wagen hinüber, die jetzt aus dem Lager fuhren. Zuerst Major Worotilow, dann Sergej Kislew. »Und wo wollen die jetzt hin?«
»Nach Stalingrad! Zu Professor Pawlowitsch. Er soll versuchen, Sellnow zu helfen.«
»Dieser
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