Der Arzt von Stalingrad
zurückschlagen. Der Zugang zum Gehirn lag durch ein Tor von der Größe einer Zigarettenpackung frei da.
Das Gehirn pulste leise. Es wölbte sich in die Öffnung vor.
»Haben wir etwas Morphium?« fragte Böhler den Professor. »Es besteht die Gefahr, daß er erwacht, jetzt, wo der Hirndruck nachläßt.«
»Keine Angst wegen der Atmung?« fragte der Professor zurück.
Böhler zuckte die Achseln. »Was bleibt uns übrig«, sagte er gepreßt.
Der Professor nickte. »Morphium ist außer den Analeptika das einzige, was ich da habe. Pelz, bringen Sie aus meiner Tasche eine Ampulle Morphium.« Und zu einem der SS-Ärzte gewandt: »Vielleicht machen Sie die Injektion.«
»Intravenös«, setzte Böhler hinzu, »ganz langsam spritzen, bitte.«
Der SS-Arzt injizierte in eine Vene der Ellenbogenbeuge. Gleich darauf tastete Böhler zart die Oberfläche des Gehirns ab.
»Ich fühle hier eine Resistenz«, sagte er zu den anderen, »es ist, glaube ich, ein Abszeß. Ich werde punktieren. Reichen Sie mir eine starke Kanüle, die stärkste, die wir haben.«
Pelz reichte ihm das Gewünschte mit einer Pinzette, und Böhler stach die Nadel in das Gehirn. Gelber, dicker Eiter drang hervor.
»Ich werde den Abszeß ausschneiden«, sagte Böhler ruhig. Alle sahen ihn überrascht an. Wie wollte er mit den wenigen Instrumenten, über die er verfügte, einen so schwierigen Eingriff durchführen? Schon die Entlastungsoperation hatte an der Grenze des Möglichen gelegen – mitten aus dem Gehirn jedoch einen Abszeß auszuräumen und seine Kapsel ausschneiden – das schien unter den gegebenen Umständen unmöglich.
Aber niemand widersprach.
Mit dem kleinen Messer schnitt Böhler in die Hirnhäute ein und arbeitete sich mit Hilfe eines blechernen Eßlöffels an den Abszeß heran, der dicht unter der Oberfläche lag. Es gelang ihm, die Kapsel des Geschwürs ohne Blutung auszulösen und zu entfernen. Dann klappte er die knöcherne ›Falltür‹ mit der Haut daran zurück und machte die Hautnaht.
Fertig …
Der Patient atmete ruhig, und sein Puls war besser als bei Beginn der Operation. Nach einer Stunde lag er schon wieder in seinem Bett – so lange hatte die Operation gedauert. Pelz, die beiden deutschen Ärzte und Buffschk lösten sich bei der Pflege ab. Sie ließen ihn keine Sekunde aus den Augen.
An der Tür stand Professor Pawlowitsch und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß aus dem Gesicht. Die Augen von Dr. Kresin strahlten; er rang nach Worten. Worotilow lehnte bleich an der Wand und schwieg. Neben dem Ofen wusch sich Dr. Böhler mit der nach Fisch stinkenden Kernseife Arme und Hände. Jetzt durften auch die beiden Schwestern in die Baracke, deren Betreten Pawlowitsch vor Beginn der Operation verboten hatte. Martha Kreutz und Erna Bordner säuberten mit Schneewasser die Bretter und den Boden.
Vor der Baracke, über das flache Land an der Wolga, über das Dorf Nishnij Balykleij und das Lager, über die Niederungen von Stalingrad bis Saratow heulte der Schneesturm. Er bog die Bäume, er tötete die streunenden Wölfe, er zerriß das Eis der Flüsse und ließ es sich auftürmen zu Bergen, er fegte die Erde glatt wie ein Leichentuch und riß Mensch und Tier mit sich weg.
Winter.
Winter an der Wolga.
Professor Pawlowitsch hockte in der kleinen Wachbaracke am Ofen und wärmte sich die Hände. »Der Kranke kommt nach Stalingrad«, sagte er. »Sobald der Sturm sich legt …«
Verlassen stehen die Türme des Lagers, die Baracken liegen im Schnee vergraben … Am Ufer der Wolga irren die Wölfe und schreien gräßlich, ehe sie vor Frost sterben. Ihr Fleisch ist hart wie Eisen … die anderen hungrigen Wölfe fressen es nicht … ihre Zähne bluten … Es gibt nichts mehr als den Sturm.
Drei Wochen später geschah die Sache mit der Kokosnuß.
Eine Sensation war in das Lager 5110/47 eingezogen: Nach dem Abebben des Sturmes und dem Übergang des Schneefalls in Frost, der das Land zu einer riesigen Eisfläche machte, kamen neue Transporte aus Stalingrad in das Lager. Lastwagen, gefahren von dick vermummten, in Schafpelzen steckenden Plennis, brachten neben Verpflegung – Hirse, Fleisch, Fett, trockenem Salzfisch, Hefe, Brot und dem unvermeidlichen Kohl – auch eine Ladung Pakete.
Pakete aus der Heimat! Die ersten Pakete seit Jahren!
Worotilow stand dieser Sendung zuerst hilflos gegenüber. Er hatte weder aus Moskau noch von der Division in Stalingrad Befehl erhalten, diese Pakete auszugeben, noch wußte er, mit welchen
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