Der Arzt von Stalingrad
Salja auf dem Bett und weinte seit Stunden. Sie hatte durch Ingeborg Waiden erfahren, warum die Kommissare ins Lager gekommen waren. Überglücklich hatte das Mädchen es ihr gesagt: »Wir sollen entlassen werden! Wir alle! Es geht nach Deutschland! Nach Deutschland!« Sie war wie von Sinnen, die kleine Krankenschwester Ingeborg Waiden, sie tanzte durch das Zimmer und weinte und lachte in einem Atem.
Janina hatte einige Zeit gebraucht, um die Botschaft zu verstehen. Zu begreifen, daß die Stunde nahe war, in der sie Jens verlieren würde – für immer auf dieser Welt, denn zwischen Stalingrad und Deutschland war die Entfernung so weit wie zwischen zwei Sternen … Unendlichkeit, die keine Sehnsucht, keine Liebe, kein Wille bezwingen konnte …
Sie hörte, wie Jens die Visiten machte, wie sein Schritt von Zimmer zu Zimmer ging, und sie wartete darauf, daß er die Klinke ihres Zimmers niederdrücken und eintreten würde. Aber sein Schritt ging vorbei … sie hatte sich aufgerichtet, als er sich näherte … er ging vorbei … die Tür des Nebenzimmers klappte … er ging vorbei! Sie schrie auf und wühlte sich in die Kissen. Ich überlebe es nicht, schluchzte sie. Ich kann es nicht mehr ertragen! Es ist zuviel! Es ist zuviel! Es erwürgt mich, dieses Leben, es tötet mich …
An diesem Abend schrieb Dr. Fritz Böhler eine seiner monatlichen Kriegsgefangenenkarten. Er schrieb sie an seine Frau und sein Kind. Er schrieb, daß man im Frühjahr viele deutsche Gefangene entlassen werde, und daß er auch unter ihnen war. ›War‹, schrieb er und schilderte, wie es kam, daß er wieder gestrichen wurde. »Arzt sein«, schrieb er, »heißt Vorbild sein« und »es gibt Höheres als das eigene Ich: die Pflicht, Mensch zu sein«. Er beschrieb die kurze Karte mit engen Zeilen und winzigen Buchstaben, er schob sie fast ineinander, um Platz genug zu haben für seine Rechtfertigung. Und als er die Karte am Ende überlas, sah er, daß es doch nur Worte waren.
Er zerriß die Karte und warf sie fort. Schweigen, dachte er. Wenn die Transporte kommen, wird sie hoffen, und wenn sie die Namen hört, wird sie weiter warten. Warum ihr das Herz schwer machen? Und es würden wieder Transporte kommen, verteilt über Monate und Jahre, und einmal würde auch er dabeisein. Dann hatte er das ganze weitere Leben lang Zeit genug, sich bei ihr zu verantworten, dann würde er sie um Verzeihung bitten – und daran glauben, daß sie es versteht.
Er sah hinüber auf den Tisch. Dort standen die Karteikarten mit den Namen und Krankengeschichten der Lazarettinsassen. Blatt an Blatt – Sie mußten ihm die Heimat ersetzen, die Wehrlosen, die Jammernden und Hilfesuchenden …
Über den Flur tappte der Schritt eines Mannes. Emil Pelz ging zu Zimmer vier, um dem heute mittag verbundenen SS-Mann eine Injektion zu machen …
Zwei Tage später setzten die Verhöre ein.
Die großen Zimmer der Kommandanturbaracke waren ausgeräumt worden. Major Worotilow wurde aus seinem Zimmer verdrängt und kroch bei Dr. Kresin unter, der brummend die Vorbereitungen ansah und mit den Kommissaren kaum ein paar Worte wechselte.
Der Erdbunker außerhalb des Lagers, in dem jahrelang die Kartoffelvorräte lagerten und der sogar beheizbar war, damit Kapusta und Kartoffeln nicht erfroren, wurde ausgekehrt und abgeschlossen. Worotilow sah es mit gerunzelter Stirn und meinte zu Dr. Kresin: »Es sieht aus wie ein Kriegsgericht, Genosse. Man säubert sogar die Bunker für eine Dunkelhaft …«
Der Schneesturm war plötzlich sonnigem Wetter gewichen – eine kalte, fast weiße Sonne, die aus den Schneefeldern glitzernde Diamantenhügel machte, aber sie verbesserte die Laune der Plennis zusehends.
Verhöre kannte man! Seit Jahren fanden sie in gewissen Abständen statt und verliefen entweder im Sand oder lösten sich in Schimpftiraden auf. Etwas Besonderes war nie dabei herausgekommen – es sei denn, daß man die plattgeschlagene Nase Hans Sauerbrunns etwas Besonderes nannte.
Eines Tages beim Morgenappell wurden die ersten Namen bekanntgegeben, 125 Namen, die Markow von einer langen Liste vorlas, worauf er die Männer anschrie, rechts herauszutreten.
Peter Fischer war unter ihnen. Karl Georg und Emil Pelz, der Sanitäter. Als letzten Namen las Markow den von Doktor Schultheiß vor. Dr. Jens Schultheiß.
Janina, die am Fenster der Lazarettbaracke stand, wandte sich ab und zog die Gardinen vor.
Am Eingang der Kommandantur stand einer der Kommissare. Er sah hinüber und schrie
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