Der Arzt von Stalingrad
Zudem müssen wir haushalten, weil wir für den neuen Siebenjahresplan noch Arbeitskräfte brauchen. Und die Deutschen sind gute Facharbeiter, die wir nicht missen können. Die vier Transporte für den Frühling sollen massiert in der deutschen Sowjetzone ankommen, um dem Westen gegenüber als Propagandaschlag zu wirken. Der amerikanische Außenminister Marshall macht uns Schwierigkeiten. In der UNO hat man nach dem genauen Stand der deutschen Gefangenen gefragt. Wir werden im Frühjahr die Massenentlassungen über Frankfurt/Oder leiten, um dann sagen zu können: Das sind alle Plennis! Die anderen, die noch in Rußland bleiben, sind Verbrecher!«
»Verbrecher?« Worotilow schüttelte den Kopf. »Sie haben doch nichts getan, die anderen Tausende …«
»Das wird sich zeigen!« Der MWD-Oberst grinste breit. Er war ein Ukrainer und deshalb bemüht, durch Schärfe das Mißtrauen zu zerstreuen, das man in Rußland allen Ukrainern entgegenbringt. »Für die zurückbleibenden Verbrecher werden wir sorgen!«
Worotilow schwieg. Er sah die anderen Offiziere an, er sah Markow zufrieden lächeln. Da beugte er sich wieder über seine Listen und strich weiter an.
Dr. Böhler, Dr. Schultheiß, Dr. von Sellnow, der noch immer als zum Lager gehörend geführt wurde. Emil Pelz – Worotilow räumte das ganze Lazarett. Er wollte alle Brücken abbrechen und nicht schuldig sein an dem Verbrechen, das Moskau befahl. Im Frühjahr würde er dann fort sein – er würde sich versetzen lassen, irgendwohin, und wenn es zur Kampftruppe war. Nur kein Gefangenenlager mehr, nur nicht mehr Kommandant eines umzäunten Friedhofes sein, nur nicht mehr mitschuldig sein an der Not Tausender.
Zwei Tage später trat Major Worotilow in den Operationsraum des Lazaretts. Hinter ihm schob sich die hagere Gestalt eines der MWD-Kommissare herein, flankiert von Leutnant Markow und einer schlanken, dunkelblonden Dolmetscherin. Dr. Schultheiß, der am Sterilisationsapparat stand, sah erschrocken auf.
Dr. Böhler beugte sich über eine Gestalt auf dem Operationstisch und legte mit ruhigem, sicherem Griff einen Kopfverband an. Pelz reichte ihm eine Sicherheitsnadel, um die Binde festzustecken. Dann erst wandte sich der Chirurg um und blickte die Versammlung von Russen fragend an.
»Der MWD«, sagte Worotilow verlegen, »interessiert sich für Ihre Arbeit, Doktor. Die Genossen möchten das Lazarett des Lagers 5110/47 besichtigen – und seinen berühmten Chefarzt.«
Der Patient auf dem Operationstisch blickte ängstlich von Dr. Schultheiß zu Emil Pelz und vermied es, die Russen anzusehen. Er zuckte zusammen, als sich die Tür erneut öffnete und ein halbes Dutzend weiterer Kommissare hereinkam.
Die Dolmetscherin wandte sich an Dr. Böhler. »Der Genosse Leutnant«, sagte sie und wies auf Markow, »hat uns von der Wunderkur erzählt, mit der Sie ihn gerettet haben.« Markow grinste verlegen. »Moskau hat das erfahren. Nun …«, sie blickte fragend auf den hageren Kommissar, der ihr bestätigend zunickte, »… unsere Arbeit ist beendet. Die Listen sind abgeschlossen und gehen heute abend nach Moskau zur Bestätigung. Aus dem Lager 5110/47 werden 362 Kriegsgefangene nach Deutschland entlassen. Ich bin ermächtigt, Ihnen mitzuteilen, daß auch Dr. Schultheiß und Sie darunter sind. Moskau weiß, was es einem echten Arzt schuldig ist.«
Dr. Böhler fühlte, wie es heiß in ihm aufstieg. Ich, dachte er. Ich werde auch entlassen! Worotilow hat mich vorgeschlagen! Ich sehe meine Frau wieder, Köln, die Heimat. Das Grauen Rußlands geht von mir, die Einsamkeit, das Warten. Ich werde die Wälder an der Wolga nicht mehr sehen, die Holzklötze nicht, unter denen die toten Kameraden begraben liegen, die Türme nicht mehr, die Rotarmisten, die Tellermützen, die Kapustasuppe, das glitschige Brot und die Handvoll Hirse. Alles wird vorüber sein, was acht Jahre lang der Inhalt meines Lebens war. Ich werde ein freier Mensch sein. Endlich! Endlich!
Einer der Kommissare war an den Tisch getreten, wo Emil Pelz eben die Krankenkarte des frisch Verbundenen in die Kartothek zurückstecken wollte, und hatte sie ihm aus der Hand genommen. Er wechselte einige Worte mit einem seiner Kollegen, während sie beide immer wieder auf eine Stelle der Karte wiesen. Dann trat er mit drei schnellen Schritten an Böhler heran, und eine rasche, russische Frage schoß dem Arzt entgegen. Er verstand ihren Sinn nicht, aber der drohende Ton war unverkennbar. Irgend etwas hatte das Mißfallen des
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