Der Arzt von Stalingrad
entlassen, wenn sie gesund sind.«
»Können Sie das garantieren, Major?«
Worotilow blickte auf seine Schuhspitzen. »Nein«, sagte er leise. »Soviel ich weiß, ist die Entlassung eine einmalige Propaganda-Aktion gegen den Westen. Wann die nächsten Entlassungen sind, weiß ich nicht …« Er sah auf und begegnete dem Blick Dr. Böhlers. »Ich habe geglaubt, Sie weinen vor Freude, daß Sie wieder in die Heimat kommen …«
»Ich habe es gestern noch getan. Aber dann kam dieser unmenschliche Befehl des Kommissars, den ich niemals ausführen konnte. Damit waren alle Hoffnungen auf meine Heimkehr mit einem Schlage zerstört. Jetzt aber weiß ich in meinem Herzen, daß es so kommen mußte, denn ich trage die Verantwortung für diese armen Menschen, die hier krank herumliegen … ich habe zwölf schwere chirurgische Fälle … einen Magendurchbruch, eine Gallenblasenresektion, zwei Fälle von Darmknickung infolge schwerer Arbeit bei Unterernährung, sieben schwere Furunkelfälle … und den SS-Mann mit dem Schädelbruch. Soll ich sie allein lassen?!«
Worotilow sprang auf. Seine Wangen glühten. »Was soll das alles!« schrie er plötzlich. »Wollen Sie etwa hierbleiben? Wollen Sie mir sagen: Ich will nicht entlassen werden?! Ich will freiwillig in Rußland bleiben?! Ich will ein Plenni bleiben, weil ein paar Kameraden mich brauchen?!« Worotilows Stimme überschlug sich. »Sie wissen nicht, was noch kommt! Wer bleibt, wird verurteilt werden … lebenslänglich! Er verliert das Recht und den Schutz der Kriegsgefangenen und wird zum Verbrecher gestempelt! Es wird keine Plennis mehr geben, sondern nur noch Strafgefangene! Überlegen Sie sich das! Sie werden entrechtet sein wie kein anderer Mensch auf der Welt!«
Dr. Böhler atmete schwer. Er lehnte an der Wand und starrte hinaus auf den Schnee und die vereisten Wachttürme. Leutnant Markow marschierte am Zaun entlang und kontrollierte den Lagerdienst, der Schnee schippte.
»Sorgen Sie dafür, daß mit Schultheiß nichts mehr schiefgeht«, sagte Böhler tonlos. »Er ist jung, man hat ihn um die besten Jahre seines Lebens betrogen, er hat viel nachzuholen, er braucht die Freiheit, um das zu leisten, was in ihm steckt. Er ist ein guter, ein sehr guter Arzt. Deutschland braucht ihn.«
»Und Sie?!« brüllte Worotilow. »Ach, seien Sie still! Sie mit Ihrem deutschen Wahn von der Pflichterfüllung!« Er hieb mit beiden Fäusten auf den Tisch. »Ich verachte Sie, wenn Sie hierbleiben! Sie verleugnen Ihre Heimat, Ihre Frau, Ihr Kind. Sie handeln nicht heldisch, sondern verantwortungslos gegen die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen und seit acht Jahren auf Sie warten! Die nichts anderes kennen als den großen Glauben: er kommt zurück! Die an der Grenze stehen werden, wenn die ersten Transporte kommen und fragen: Ist Dr. Böhler dabei? Kennt einer von euch einen Dr. Böhler? Und dann wird man ihnen sagen: Ja, wir kennen ihn, er ist der Arzt von Stalingrad, und er blieb da! Denkt mal, er blieb da! Er blieb in der Hölle Rußland, in der Steppe an der Wolga – aus Pflichtgefühl, denkt mal an! Er stand schon auf der Liste, aber er wollte dableiben – darum wartet nicht an der Grenze, fahrt zurück nach Köln und beseht euch sein Bild. Er kommt noch lange nicht wieder – sein Gewissen hat es nicht zugelassen …«
Dr. Böhler wandte sich ab. Er trat ans Fenster und legte die heiße Stirn an die nasse, kalte Scheibe. »Sie vergessen, daß alles längst entschieden ist, Major«, stammelte er. »Kann ich den Vorfall ungeschehen machen – können Sie es?«
Worotilow öffnete die Tür mit einem Ruck. Fahl im Gesicht, drehte er sich um. »Sie haben es so gewollt. Werden Sie glücklich, Sie – Sie Held, Sie!«
Mit lautem Krach fiel die Tür zu.
Einen Augenblick stand Dr. Böhler starr am Fenster. Er schloß die Augen und spürte die Kühle der Scheibe durch seinen ganzen Körper dringen. Dann schwankte er und fiel ächzend auf den Stuhl neben dem Tisch. Sein Kopf sank auf die Platte. Er weinte haltlos …
Dr. Schultheiß machte die Visiten. Böhler hatte sich eingeschlossen und öffnete nicht, soviel man auch an seine Tür klopfte. Dr. Kresin rannte in seinem Zimmer auf und ab und wurde von Worotilow bewacht. »Ich schlage seine Tür ein!« schrie er immer wieder. »Ich schleppe ihn mit meinen Händen zum Wagen! Ich bringe ihn bis an die Grenze und schiebe ihn hinüber!«
Er war nicht der einzige, der an diesem Abend die Haltung verlor. In ihrem Zimmer lag Janina
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