Der Arzt von Stalingrad
verurteile Sie, Worotilow, zu lebenslänglich Sibirien!«
»Seien Sie still«, sagte Worotilow gequält. »Ich schäme mich …«
Die Mehrzahl der 125 Plennis aber ließ man laufen. Es waren Landser, arme Schweine, die nur ihre Pflicht taten, die im Dreck lagen, weil man es ihnen befahl, und die in Gefangenschaft kamen wie eine Herde Lämmer, die dem Leitbock nachtrottete. Sie wurden kaum verhört – sie erhielten eine Nummer in der Liste, wurden nach draußen geführt und abgesondert. Nur die Soldaten, die irgendeine Funktion in der Truppe bekleideten – ob es Furier war, Kleiderbulle, Koch, Melder, Ausbilder, Schreiber, Rechnungsführer, Spieß oder Funker –, wurden mit dem stereotypen Satz verurteilt: Sie haben dazu beigetragen, daß Ihre Truppe die Möglichkeit hatte, in Rußland einzufallen und zu morden. Zum Tode. Begnadigt zu Lebenslänglich oder fünfundzwanzig Jahren!
Am Mittag waren die 125 durchgeschleust. Dr. Jens Schultheiß hatte Glück – man sagte ihm nicht, daß er als Arzt die Leute wieder gesund gemacht und dadurch immer wieder neue Soldaten gegen Rußland in den Kampf geschickt habe. Man würdigte in ihm den Stand des Arztes, der auch in Rußland sehr geehrt wird. Man musterte ihn schweigend, die Dolmetscherin lächelte, dann bekam er eine Nummer und durfte gehen. Nummer 4592/11.
Die Verhöre dauerten zwei Wochen. Vormittags und nachmittags wurden die Plennis durch die Kommandanturbaracke geschleust. Der Kartoffelbunker füllte sich – 67 Verdammte, die man zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglicher oder fünfundzwanzigjähriger Zwangsarbeit begnadigte.
Sie blieben nur eine Nacht in ihrem dumpfen Gefängnis. Am nächsten Morgen wurden sie in eine Baracke transportiert, die etwas abseits lag und um die man einen besonders hohen Stacheldraht gezogen hatte. Tag und Nacht ging eine schwerbewaffnete Patrouille um den Zaun herum. Verpflegt wurden sie vom Hauptlager – man brachte das Essen in Kübeln zu ihnen an den Zaun, wo die Russen selbst die Suppe und das Brot verteilten.
Unter den Entlassenen war auch Dr. von Sellnow. Man hatte ihn krank gemeldet, momentan in Stalingrad, obwohl keiner wußte, ob er wirklich dort war. Wie Dr. Schultheiß hatte man ihm eine Nummer gegeben und ihn in eine besondere Liste eingetragen. Worotilow hatte für ihn gesprochen – er brauchte nicht einmal verhört zu werden.
»Arbeitsunfähig?« fragte die Dolmetscherin nur.
»Vollkommen! Gehirnoperation!«
»Kommt in Kategorie I. – Der nächste …«
Dann – ganz plötzlich – war der Spuk verflogen.
Die MWD-Offiziere fuhren nach Stalingrad zurück. Die Baracke wurde wieder eingeräumt, Worotilow bezog sein Zimmer – nur die abgesperrte Strafbaracke bewies, daß die beiden Wochen kein bloßer Traum gewesen waren. Die Kasalinsskaja war die einzige, die die Strafbaracke betreten durfte und dort die Kranken untersuchte. Sie tat es gewissenhaft, mild und – entgegen ihrer früheren Art – höflich. Noch wußte sie nicht, daß Sellnow auf der Entlassungsliste stand und es keine Macht mehr gab, die ihn in Rußland zurückhalten konnte. Moskau befahl – und was gibt es in Rußland Höheres, als einen Befehl aus Moskau? Sie lebte noch immer in dem Glauben, daß Werner von Sellnow transportunfähig und eine Entlassung deshalb ausgeschlossen sei.
Was mit den Leuten in der Strafbaracke geschehen sollte, wußte Worotilow nicht. Der MWD-Major hatte die Schultern gezuckt, als er ihn danach fragte. »Es kommen noch Befehle«, sagte er ausweichend. »Vielleicht kommen sie zu einer anderen Lagergruppe, vielleicht nach Swerdlowsk oder zum Eismeer. Ich weiß es nicht. Lassen Sie die Kerls erst einmal in der Baracke, und pflegen Sie sie gut! Wir brauchen sie ja noch …«
So wurde es wieder still im Lager.
Die Tage rannen dahin. Arbeit in den Außenlagern, Lagerdienst – und nach zwei Tagen Sonne wieder ein Schneesturm, der vom Osten aus der Steppe kam und die Bäume niederbog. Die Pakete wurden aufgezehrt, man stand wieder nach Kapustasuppe an und aß das dunkle, glitschige Brot. Michail Pjatjal blies wieder unter Peter Fischers Leitung Trompete, und Bascha ließ sich weiter von den zum Küchendienst Abkommandierten in den Hintern und in die prallen Brüste kneifen. Seit die Pakete gekommen waren, ging es den Plennis dabei nicht mehr nur um eine Sonderportion – und ein junger, großer Soldat, ein Bauer aus der Rhön, hatte das Glück, Bascha an einem Abend im Keller über einen Haufen Kartoffeln werfen
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