Der Arzt von Stalingrad
etwas über den Zaun. Leutnant Markow nickte und steckte die Liste ein. »Die auf Liste, marsch!« kommandierte er. Er setzte sich an die Spitze des elenden Haufens und marschierte mit ihnen durch das große Tor zur Kommandantur.
Dort wurden die 124 Plennis aufgestellt. Einer aus dem Haufen rannte zum Lazarett, um Dr. Schultheiß zu holen, der seine Morgenvisite machte. Worotilow gab den zweiten Teil der Listen an den Leiter der MWD-Kommission weiter. Inmitten der langen Kolonnen war ein Name dick durchgestrichen.
Der Name Dr. Fritz Böhler.
Gab es wirklich in kürzester Zeit Entlassungen nach Deutschland – der Stabsarzt Dr. Böhler aus Köln war nicht unter denen, die im Viehwagen wochenlang durch Rußland und Polen zur deutschen Grenze rollten.
Hinter dem großen Tisch, der die ganze Längswand des Zimmers ausfüllte, nahmen der Major des MWD, drei Kommissare und die Dolmetscherin Platz. Jakob Aaron Utschomi drückte sich in einer Ecke herum und hatte die undankbare Aufgabe, die Übersetzungen der Wechselrede noch einmal zu überprüfen und Protokoll zu führen. Major Worotilow fungierte nur als Zuschauer. Er saß abseits an der Schmalwand des Zimmers mit Dr. Kresin und der Kasalinsskaja. Leutnant Markow regelte mit stimmgewaltigen Flüchen das Einschleusen der Plennis in den Saal und den Abtransport der als schwarz befundenen Schafe. Dazu standen vor der Baracke dreißig schwerbewaffnete Rotarmisten mit Maschinenpistolen und Dolchen, Männer aus der Tungusen-Steppe.
Die Verhöre gingen schneller, als man erwartet hatte. Keine fünf Minuten, und aus der Baracke stolperten die ersten Abgefertigten. Sie wurden zur Seite geführt, ohne jede Möglichkeit, die noch Wartenden darüber zu verständigen, was im Innern der Baracke vor sich ging. Manche kamen auch nicht wieder – sie warteten in einem kleinen Zimmer und wurden dann schubweise in den Erdbunker geführt. Man sah es jenseits des Drahtes mit Zähneknirschen und Empörung. Roh stießen die Tungusen die Männer in den Kartoffelbunker hinab und schlossen dann die Tür.
Von einem Verhör im Sinne eines geltenden Kriegsgerichts konnte eigentlich keine Rede sein. Während die drei MWD-Offiziere schweigend an dem langen Tisch saßen und in die aufgeschlagenen Aktenstücke sahen, führte die hübsche Dolmetscherin allein die Verhandlung. Sie las nur vor, was man ihr zuschob, und sie erwartete die Antworten der Verhörten, um dann nach einem Blick auf den schweigsamen Major das Urteil ungerührt bekanntzugeben.
Ein junger Unteroffizier stand vor dem Tisch. Er war bleich, ausgehungert. Seine schwieligen Hände ließen darauf schließen, daß er schwere Arbeit im Lager verrichtete. Abwartend stand er vor der Dolmetscherin und starrte auf ihre langen, schwarzen Locken, die ihr über Schulter und Uniform fielen.
»Sie habben gehabt bei Ihrer Kompanie die Geräte?« fragte die Dolmetscherin.
»Ja.«
»Auch beim Vormarsch nach Rußland?«
»Ja. Ich war W. u. G. Das gibt es bei jeder Truppe.«
Die Dolmetscherin nickte und nahm ein Blatt aus der Mappe.
»Sie werden hiermit zum Tode verurteilt«, sagte sie gleichgültig. »Begründung: durch die Pflege der Waffen und Geräte haben Sie maßgeblich dazu beigetragen, daß Ihre Truppe in Rußland Menschen töten konnte. Sie sind deshalb des Mordes schuldig. Einzig und allein durch eine Pflege der Waffen war Ihrer Truppe der Vormarsch möglich. In Verfolg einer Gnadenaktion werden Sie vom Tode zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigt. Abführen …«
Schwankend wurde der junge Unteroffizier in den Nebenraum geschoben. Markow grinste. Er schob einen anderen Plenni ins Zimmer, einen Oberfeldwebel, groß, breit, ein Bayer. Bauer und Milchviehzüchter.
Die Dolmetscherin nahm wieder ein Blatt aus den Akten. »Sie Transportleiter? Was versteht man darunter?«
»Ich hatte für den Nachschub zu sorgen«, sagte der dicke Bayer laut.
»Sie sind hiermit zum Tode verurteilt, weil Sie es durch Ihren Nachschub ermöglichten, daß die Deutschen alle Mittel in die Hand bekamen, Rußland zu zerstören.« Die Dolmetscherin las es vor, als sei es ein beliebiger Zeitungsartikel. »Sie werden zu 25 Jahren Zwangsarbeit begnadigt. Der nächste!«
Dr. Kresin stieß Worotilow an, der stumm vor sich hin auf die Dielen starrte.
»Wir müssen die Uniform ablegen«, sagte er leise. »Wir haben es durch menschliche Maßnahmen ermöglicht, daß die deutschen Gefangenen noch leben. Das ist Sabotage am russischen Vergeltungswillen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher