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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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aufgewirbelt hatten, wieder legte, erschütterte ein helles Schmettern die Luft.
    Die Trompete …
    In seinem Zimmer saß Leutnant Piotr Markow mit verzerrtem Gesicht und hieb mit geballten Fäusten wild auf den Tisch. Er weinte vor Wut.
    Im Lager 12 saß Dr. Kasalinsskaja am Bett des Verletzten und betrachtete den aufgespaltenen Fuß. Wie Dr. Böhler befürchtet hatte, stellte sich Fieber ein, und die Wunde eiterte.
    »Wollen Sie auch den gesund schreiben?« sagte Dr. Böhler, nachdem sich die Kasalinsskaja erhoben hatte. »Mit den Händen kann er arbeiten, wenn Sie ihn an die Bäume rollen lassen …«
    »Sie müssen den Fuß amputieren«, antwortete Alexandra kühl.
    »Und nur, weil das ganze Sanitätswesen des Lagers restlos versaut ist«, sagte Dr. Böhler bitter. »Wir machen diesen armen Kerl für den Rest seines Lebens zum Krüppel, weil ihr, die Russen, die Sieger, ihr mit dem großen Geschrei vom Menschenrecht, den Menschen derart mißachtet. Den armen, hilflosen, getretenen, gefangenen Menschen …«
    »Wenn Sie weitersprechen, schlage ich Ihnen mit der Reitpeitsche ins Gesicht«, sagte die Kasalinsskaja eisig. »Der Mann kommt sofort ins Hauptlager. Dort wird Sellnow ihn versorgen.«
    Dr. Böhler steckte sich eine Zigarette an, die Dr. Kasalinsskaja ihm bei ihrem letzten Besuch dagelassen hatte. Genießerisch inhalierte er den Rauch.
    »Ich habe noch etwas für Sie.« Er reichte ihr eine Liste hin. Sie nahm widerstrebend das Stück Papier und blickte darauf nieder.
    »Was soll ich damit?« fragte sie unwirsch.
    »Es sind die Namen von siebenunddreißig Gefangenen dieses Lagers«, sagte Dr. Böhler ironisch. »Diese Männer haben sich im vorigen Sommer eine Malaria zugezogen, und die Plasmodien leben jetzt in ihren Milzen und ihren retikuloendothelialen Systemen – wenn Sie davon schon mal gehört haben sollten – und werden demnächst wieder ausbrechen. Diese siebenunddreißig Gefangenen müssen hier weg, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch der anderen Gefangenen wegen, übrigens auch Ihrer Leute wegen. Jeder Mückenstich kann Malaria bedeuten – ich hoffe, Sie wissen, was das heißt …«
    Die Kasalinsskaja drehte sich um und verließ schnell den Raum. Auf der Treppe der Baracke holte Böhler sie ein.
    »Wo wollen Sie denn hin?« fragte er.
    Sie schüttelte seine Hand ab. »Zurück ins Lager«, fauchte sie.
    Er ließ sich nicht beirren. »Sie nehmen die Liste mit!« drängte er.
    »Nein!«
    »Doch, ganz bestimmt. Und Sie werden die Liste Dr. Kresin zeigen und ihm mitteilen, was sie zu bedeuten hat. Wir können nicht alle Gefangenen mit Malaria verseuchen lassen.«
    »Der Krieg war ein Verbrechen an der Menschheit«, schrie sie ihn an. »Die Gefangenschaft ist seine gerechte Sühne.«
    »Warum sträuben Sie sich, Alexandra?« Bei der Nennung ihres Vornamens fuhr die Ärztin herum. Nacktes Erstaunen und hüllenlose Angst standen in ihren Augen. Sie atmete heftig.
    »Immer stehen Sie gegen uns Deutsche, immer ist Ihr Njet wie ein Todesurteil – aber hinterher überraschen Sie uns mit einer nie geahnten Liebenswürdigkeit. Warum sträuben Sie sich vorher immer? Haben Sie Angst vor Ihrem Herzen, Alexandra?«
    Die Ärztin schloß einen Moment die Augen. Über ihr schönes, volles, tierhaft-lockendes Gesicht flog der Schimmer einer Röte. Dann hatte sie wieder Gewalt über sich, wandte sich ab und stapfte durch den Staub davon.
    Erst als sie im Jeep saß und durch die Schneise ratterte, vorbei an den arbeitenden Kolonnen, die ihr haßerfüllt nachsahen, wischte sie sich über die Augen. Ihr Handrücken war feucht, als sie ihn am Rock abstreifte.
    Mein Herz, dachte sie. Wer hat jemals nach meinem Herzen gefragt? Meine Eltern nicht … meine Lehrer nicht … Karlow nicht, der mich in Kasan vergewaltigte, als ich 17 war … Iwanow nicht, Peter, Julian, Serge und wie die Männer hießen … Werner nicht … Keiner, keiner … mein Herz?
    Habe ich noch ein Herz? Ist es nicht getötet worden durch die Kälte, die mir von allen Menschen entgegenschlug? Durch die Gier, mit der sie mich nahmen und nachher wie einen abgenagten Knochen wegwarfen?
    Was weiß Dr. Böhler von meinem Herzen? Sah er es? Erkennt er es …? Würde er es finden …?
    Der Wald wurde lichter. Die Steppe lag vor ihr. Die Luft flimmerte vor Hitze. Hinter ihr krachten die Bäume ins Unterholz. Der Motor sang.
    Unter dem blauen Himmel kreiste still, mit weiten Schwingen, ein Bussard.
    Die Sonne brannte.
    Aus dem Wachhaus des Lagers 12

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