Der Arzt von Stalingrad
Grausamkeit, die Sie anbeten«, lächelte Böhler.
»Allerdings.« Worotilow stieg auf den Sitz des Jeeps, den ein kleiner Mongole fuhr. Der Asiate grinste Dr. Böhler breit an. »Es ist verflucht schwer zu vergessen, daß man ein Mensch mit Gefühlen ist …«
Der Motor brummte. Worotilow schob die Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Er sah aus wie eine schmollende Bulldogge. Dr. Böhler hatte die Hand auf dem Rahmen der heruntergeklappten Windschutzscheibe liegen.
»Der Feldwebel ist noch immer da. Er wartet auf seinen Abtransport. Seine Sachen stehen seit vier Tagen gepackt. Er wagt nicht mehr, sich zu rühren.« Böhler sah zurück zur Waschbaracke. »Wann holen Sie ihn ab?«
Worotilow blickte Dr. Böhler böse an. »Hol der Teufel euch Deutsche«, sagte er knurrend. Dann stieß er den Mongolen in die Seite, und der Jeep fuhr in einer Staubwolke davon.
Dem Verwundeten, den die vier Männer in der Zeltplane heranschleppten, war eine Säge in den Fuß gefahren. Zwischen der zweiten und dritten Zehe war der Fuß sieben Zentimeter tief in zwei Hälften gespalten. Der Verletzte wimmerte und schlug den Kopf vor Schmerz von einer Seite zur anderen. Die Beine lagen in einer Blutlache.
Dr. Böhler biß die Lippen aufeinander. Seine vollkommene Ohnmacht kam ihm in diesen Sekunden so stark zum Bewußtsein, daß er sich vor Gott schämte, ein Mensch zu sein.
Kein Narkosemittel … kein chirurgisches Instrument …
Der Sanitäter an der Barackentür rannte voraus und legte auf den ›Operationstisch‹ einen gewaschenen Sack als Unterlage.
Dr. Böhler mußte an das Taschenmesser denken und schloß einen Augenblick die Augen. Wie sollte er diese schreckliche Wunde versorgen?
»Haben wir Gips?« fragte er leise.
»Jawohl, Herr Stabsarzt«, der Sani war bleich, »aber keine fertigen Gipsbinden.«
»Können Sie mit Mullbinden Gipsbinden herstellen?«
»Ja«, antwortete der Mann, »das kann ich.« Er war stolz.
»Also, dann los, Mann, was stehen Sie noch hier. Streuen Sie ein Dutzend Binden ein und machen Sie viel heißes Wasser, aber schnell, schnell.«
Der Sanitäter rannte eifrig davon.
Die vier Träger sahen den fremden Plenni vor sich erstaunt an. Sie legten die Zeltplane mit dem jammernden Verwundeten auf ein leeres Bett und wischten sich den Schweiß aus den staubigen Gesichtern. Wo sie sich mit dem Handrücken trockneten, hinterließ der Schweiß große Flecken auf der schmutzverkrusteten Haut.
»Wer bist du denn?« fragten sie. »Ein Arzt?«
»Ja.« Dr. Böhler untersuchte den zerfetzten Fuß. »Ich heiße Dr. Böhler.«
Die vier schauten sich verblüfft an. »Wir kommen aus dem Lager 16, hinter dem Wald. Bei den Sümpfen. Ein Dreckloch, Herr Doktor. Wir hörten schon, daß hier ein Arzt sein soll und haben den Karl hergeschleppt. Drüben bei uns geht er ja doch ein. Wir wollten's gar nicht glauben, daß hier ein Arzt ist, und haben uns gesagt: Bringen wir den Karl nach 12. Ist's wahr, hat er Glück, ist's nicht wahr, geht er in 12 genauso vor die Hunde wie in 16!« Der Sprecher, ein langer, dürrer Kerl, dessen dicker Adamsapfel beim Sprechen immer auf und nieder hüpfte, sah Dr. Böhler aus glänzenden Augen an. »Und nun ist's doch wahr …«
»Der Karl hat viel Blut verloren, Jungs«, sagte Böhler zu ihnen. »Und er kann Starrkrampf bekommen. Ich habe nichts hier als ein bißchen Verbandzeug und meine Hände …«
Die vier schauten sich betreten an. »Man sollte wirklich Schluß machen«, sagte der Lange dumpf. »Einem Russen in den Hintern treten und sich dann erschießen lassen. Dann ist alles vorbei …«
»Darauf warten sie doch bloß, du Idiot«, fiel ihm ein anderer ins Wort. »Beiß die Zähne zusammen, und schau nicht hin.«
Der Sanitäter kam in den Raum. Er hatte die Gipsbinden und Verbandzeug in der Hand. Einer der Malariakranken trug eine Blechschüssel mit kochendheißem Wasser hinterher.
Dr. Böhler nahm sich die Männer beiseite, die den Verwundeten gebracht hatten.
»Es wird schlimm werden«, flüsterte er ihnen zu, »ich habe nichts, um ihn zu narkotisieren. Ihr müßt ihn ganz fest halten. Es wird wahnsinnig weh tun, aber er stirbt fast sicher an einer Infektion, wenn ich die Wunde nicht reinige. So, jetzt haltet ihn.«
Die Männer traten neben den Tisch und legten die Hände an den Verletzten. Noch packten sie nicht fest zu, denn der Kranke war ganz seinem Schmerz hingegeben und kümmerte sich nicht um sie.
Dr. Böhler trat heran und wies den Sanitäter an, wie er den Fuß
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