Der Arzt von Stalingrad
müssen. Es wird allein die Schuld von Dr. Böhler sein …«
Der Arzt sah zu Boden. In sein schmales Gesicht stieg heiße Röte. Er sah plötzlich die Auswirkungen seines Entschlusses und erinnerte sich der Worte, die er eben noch Dr. Schultheiß gesagt hatte. Was wird, ist wichtig, nicht das Heldentum! Und gerade er war jetzt dabei, seine Kameraden zu verlassen, sie zu verraten, sie einfach sterben zu lassen, weil er im Zorn über die Strafmaßnahmen der Lagerleitung sein Amt zur Verfügung stellte. Ein Zorn, der nichts änderte, sondern nur alles verschlimmerte und die Plennis tiefer hineinstieß in die Hoffnungslosigkeit als je zuvor. Er hatte gedacht, Worotilow mit seinem Verzicht zur Aufgabe der Strafen zu bewegen, und war nun gezwungen, sich selbst zu erniedrigen. Worotilow war der Stärkere, er war der Sieger, er hatte in seinen Händen die Gewalt der Grausamkeit. Es war seine Idee! Und sie war erfolgreich. Das entschied.
Dr. Böhler blickte Worotilow an. »Ich operiere um halb elf!« sagte er leise.
Am Abend brannten um zehn noch die Lampen im Lager, und das Orchester probte in der Stolowaja mit seinen Instrumenten. Nur das Essen blieb noch um die Hälfte reduziert. Worotilow war mit sich und der Welt sehr zufrieden …
Drei Tage nach diesen Ereignissen kam Kommissar Wadislav Kuwakino in das Zimmer Dr. Böhlers. Seine weit auseinanderstehenden Augen glänzten vor Triumph.
Dr. Böhler wurde es kalt unter diesen Augen. Angst kroch in ihm hoch, aber er hielt dem Blick des kleinen Asiaten stand. Kuwakino faltete die Hände, als wolle er beten. Es war bei ihm eine groteske Geste, und Dr. Böhler mußte sich Mühe geben, nicht zu lächeln – trotz der Gefährlichkeit der Situation.
»So sieht auß Mann, derr komtt in Sumpf!« sagte der Kommissar langsam und betrachtete den Arzt voller Verachtung. »In Sumpf von Kasymsskoje, wo Todd ist.«
Dr. Böhler biß die Zähne zusammen. Was er nie geglaubt hatte, war doch Wahrheit geworden: Worotilow hatte ihn bei Kuwakino angezeigt. Er hatte seine Drohung ausgeführt. Er hatte sich durchgerungen, ein Russe zu sein und nicht ein Freund der Deutschen. Er opferte ihn, um zu beweisen, daß er der Herr der Macht war.
»Auch in Kasymsskoje wird es Kranke geben …«
Kuwakino nickte. »Abber nicht Arzt!« Er grinste. »Du dort Arbeitter! Wie alle! Nicht Arzt!«
Dr. Böhler erhob sich und wanderte im Zimmer hin und her. Die Blicke aus den Fuchsaugen des Kommissars wanderten mit. Er trat ans Fenster und sah, wie ein Lastwagen auf dem Platz ausgeladen wurde. Die Kasalinsskaja stand dabei und sprach erregt auf einen vermummten Mann ein. Sein Pelzmantel schleifte fast über den Schnee, die Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Jetzt drehte sich der Mann herum und blickte zum Lazarett. Dr. Böhlers Herz stockte einen Augenblick.
Werner von Sellnow.
Er kam, ihn abzulösen. Es war Ernst geworden.
Moskau schrieb den Arzt, den Chirurgen Dr. Fritz Böhler ab.
Hinter sich hörte er leises Atmen. Kommissar Kuwakino sah ihm über die Schulter.
»Nachfolgerr!« sagte er leise.
»Sie hätten keinen Besseren finden können. Dr. von Sellnow ist ein vorzüglicher Arzt.«
»Und Kommunist.«
»So?« Dr. Böhler wandte sich ab. Sellnow ein Kommunist? Sollte die Kasalinsskaja ihn ganz in ihr Lager hinübergezogen haben? Er schloß das Aktenstück, das auf seinem Tisch lag, und kam sich allein und von allen verlassen vor. Dr. Kresin ließ sich nicht blicken, Worotilow nicht, Dr. Schultheiß machte mit den Schwestern Visite, die Kasalinsskaja stand bei ihrem Geliebten, die Tschurilowa saß im Laboratorium … Er war allein. Allein mit Kuwakino.
»Wann werde ich abtransportiert?«
»Am Mittwoch nächster Woche.« Kuwakino lächelte. »Ohne Gepäck …«
Ohne Gepäck. Dr. Böhler kannte diesen Ausdruck. Ohne Gepäck hieß: Du brauchst keinen Ballast mehr, denn du kommst doch nie wieder zurück zu den Lebenden. Du bist abgeschrieben, du stehst in keiner Liste mehr … du bist Freiwild, eine Null, ein Nichts!
Kommissar Wadislav Kuwakino warf noch einen Blick auf den schweigenden Arzt, dann verließ er das Zimmer und prallte auf dem Flur mit Dr. von Sellnow zusammen, dem die Kasalinsskaja folgte. Sellnow war hochrot im Gesicht. Er bebte vor Zorn und stellte sich dem kleinen Asiaten in den Weg.
»Wo ist der Stabsarzt, Kommissar?« brüllte er.
»Im Zimmer.«
Sellnow schob Kuwakino zur Seite und rannte den Gang entlang. Er riß gerade die Tür auf, als der Kommissar leise zu der
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