Der Arzt von Stalingrad
Jahren. Kresin kann mir gegen Kuwakino nicht helfen – ich werde also gehen …«
Sellnow schwieg. Er starrte auf die Tischplatte. In seinem Kopf entwickelte sich ein Plan, ein schrecklicher, ein verzweifelter Plan. Dr. Böhler beobachtete ihn verblüfft, er wollte etwas sagen, aber Sellnow drehte sich schon um und kam auf ihn zu.
»Was auch kommen mag, Fritz, versprichst du mir, ruhig zu bleiben?«
»Was soll das, Werner? Was hast du vor?«
»Willst du still sein, Fritz? Versprich es mir. Gib mir die Hand, daß du keinen Finger rühren wirst. Daß du nichts unternimmst.«
Dr. Böhler schüttelte den Kopf. Eine unbestimmte Ahnung hielt ihn zurück, sein Wort zu geben.
»Wenn ich nicht weiß, was es ist.«
Sellnow zögerte wieder, doch dann ergriff er seine Jacke, hing sie lose um die Schultern, setzte seine Pelzmütze auf den Kopf und schloß die Tür auf.
»Leb wohl, Fritz«, sagte er leise. Seine Stimme schwankte ein wenig. »Ich war manchmal grob und ein scheußliches Ekel. Ich habe euch oft Sorgen gemacht und dir viel gesagt, was ich eigentlich gar nicht so meinte. Vergiß alles, und bleibe so, wie du bist.«
Dr. Böhler kroch die Angst im Halse hoch. Er spürte, wie sie ihn würgte. »Was soll das, Werner?« sagte er drängend. »Du hast wieder eine Dummheit vor. Werner!«
Er lief ihm nach – aber Sellnow war schon im Flur und rannte ihn entlang. Plötzlich wußte Dr. Böhler, was er plante, und eine wilde Verzweiflung erfaßte ihn.
»Werner! Bleib!« schrie er durch das Lazarett. Die Kasalinsskaja tauchte am Ende des Ganges auf und stellte sich dem davonstürmenden Sellnow in den Weg.
»Halten Sie ihn fest, Alexandra!« schrie Dr. Böhler. »Er macht eine Dummheit! Halten Sie ihn!«
In vollem Lauf prallte Sellnow gegen die Ärztin, er wirbelte sie mit sich herum, stürmte an ihr vorbei und riß die Außentür auf. Ingeborg Waiden, die aus der Lungenstation kam, war nicht fähig, den rennenden Mann aufzuhalten. Sie sah entsetzt zu, und erst der Aufschrei der Kasalinsskaja weckte sie aus ihrer Erstarrung.
Sellnow rannte über den vereisten Platz. Seine Jacke flatterte … sie wehte davon, fiel in den Schnee als ein dunkler, welliger Haufen … Sellnow merkte es nicht. Er hetzte über den weiten Platz, er rannte zur Kommandantur, vor der gerade Kommissar Kuwakino seine Stiefel bürstete.
Die Kasalinsskaja jagte mit flatternden Haaren ihm nach. Dr. Böhler stand an einem offenen Fenster und brüllte die von der Küche kommenden Soldaten an: »Aufhalten! Haltet ihn fest! Festhalten!!«
Sellnows Atem flog. Wie ein Besessener rannte er über das Eis … dann hatte er den Kommissar Kuwakino erreicht.
Ehe Alexandra bei ihm war oder die Soldaten zugreifen konnten, hatte er sich auf den kleinen Asiaten gestürzt und schlug ihm mit beiden Fäusten ins Gesicht. Kuwakino schrie auf … die Trillerpfeifen der Posten auf den beiden Türmen schrillten … aus dem Postenhaus rannten die Russen … Worotilow erschien am Fenster … ungläubig, erblassend sah er auf die Szene vor seiner Kommandantur.
Sellnow hieb auf Kuwakino ein, der wimmernd zu Boden fiel. Dann trat Sellnow auf seinem Körper herum, es war, als wollte er ihn in das Eis stampfen. Dabei hielt er die Augen geschlossen und trat … trat …
Dr. Böhler sank mit dem Kopf gegen das Fenster. Er zitterte und kämpfte mit einem lauten Schluchzen.
Aus! dachte er nur. Aus! Aus!
Die ersten Posten waren bei der Gruppe … ein Kolbenhieb warf Sellnow neben Kuwakino in den Schnee.
In die Arme des herausstürzenden Worotilow fiel die Kasalinsskaja. Sie schrie noch einmal grell auf, ehe sie besinnungslos zusammenbrach.
Und um sie herum standen die deutschen Gefangenen … stumm, unbeweglich, mit harten Augen.
Sanitäter eilten herbei … sie luden den blutüberströmten, kaum noch atmenden Kuwakino auf eine Bahre und rannten zurück zum Lazarett. Dr. Kresin erschien und raufte sich die Haare.
»Dynamit her!« schrie er über den Platz. »Dynamit, um das ganze Lager in die Luft zu sprengen!«
Ruhig, als sei nichts geschehen, trotteten die Plennis zu den Baracken zurück. Sie kümmerten sich nicht um die Befehle, die Worotilow hinausbrüllte … seit Tagen aßen sie die halbe Portion … was gab es noch Schlimmeres als das?
Bis in die Nacht hinein arbeiteten Dr. Kresin, Dr. Böhler und die beiden Schwestern Martha Kreutz und Erna Bordner im Operationssaal an Wadislav Kuwakino. Dann hatten sie seine Rippenbrüche und seine Schädelverletzungen
Weitere Kostenlose Bücher