Der Arzt von Stalingrad
ist ja der alte Hurenbock!« rief einer aus der Schlange. »Dir schlagen sie auch noch mal die weiche Birne ein!«
Pjatjal lächelte und schloß die Fenster. Er dachte an den schönen Rinderbraten, der in der Küche bruzzelte.
Im Lazarett stand Dr. Böhler vor seinem Sanitätspersonal. Er blickte von einem zum anderen – Dr. Schultheiß, Ingeborg Waiden, Martha Kreutz, Erna Bordner, Emil Pelz und vier Hilfssanitäter. Sein Gesicht war sehr ernst.
»Worotilow läßt nur halbe Portionen ausgeben«, sagte er langsam. »Das bedeutet, daß wir innerhalb von drei Wochen die ersten Fälle von Hungerödem bekommen. Von Herzschäden ganz zu schweigen! Ich bin gewillt, diese Strafmaßnahme nicht hinzunehmen!«
Ingeborg Waiden sah ihren Chef verblüfft an.
»Was wollen Sie dagegen tun?« fragte sie kleinlaut.
»Ich werde das Lazarett schließen.«
»Was werden Sie?« Dr. Schultheiß schüttelte den Kopf. »Das geht doch nicht! Wir haben voll belegt. Leutnant Markow liegt hier …«
»Um den kann sich Dr. Kresin kümmern. Außerdem haben die Russen ja die Kasalinsskaja und die Tschurilowa! Wenn ihr alle Mut habt, ein wenig Zivilcourage und bereit seid, die Folgen zu tragen, legen wir ab heute die Arbeit nieder, bis wieder normale Verhältnisse im Lager herrschen. Ich nehme es allein auf mich: Ihr habt alle nur unter meinem Befehl gehandelt.«
Dr. Schultheiß trat vor. Sein junges Gesicht mit den blonden Haaren darüber war gerötet. »Wir lassen Sie nicht allein, Herr Stabsarzt!«
»Dann kann ich dem Major melden, daß wir nicht mehr arbeiten?«
»Ja, Herr Stabsarzt.«
Dr. Böhler wandte sich ab und verließ das Lazarett. Bevor er aber zu Worotilow ging, schrieb er noch einen Brief und gab ihn Dr. Schultheiß. »Bewahren Sie ihn gut«, sagte er mit belegter Stimme. »Es kann sein, daß ich nicht zurückkomme. In diesem Falle behalten Sie den Brief und geben ihn meiner Frau, wenn Sie dazu Gelegenheit haben. Einmal werden Sie ja doch aus Rußland herauskommen …«
Dr. Schultheiß legte den Brief zur Seite auf den Tisch. Seine Augen glänzten. »Ich lasse Sie nicht allein gehen, Herr Stabsarzt! Ich gehe mit zu Worotilow!«
»Sie bleiben! Einer muß doch auf Ordnung sehen. Und meinen Brief müssen Sie an die Adresse meiner Frau besorgen. Das ist mir wichtiger als Ihr Heldentum! Vergessen Sie das nicht.«
Dr. Schultheiß zögerte. In seinen Zügen arbeitete es. »Nein«, sagte er stockend. »Ich werde es nicht vergessen …«
Er begleitete Dr. Böhler bis zur Treppe des Lazaretts und blieb dort stehen. Er blickte ihm nach, wie er schlank, in seiner wattierten Jacke, die Klappenmütze auf dem schmalen Kopf, durch den Schnee stapfte, der Kommandantur entgegen. Ein Posten, der von den Türmen kam, sah ihm nach. Einige Gefangene, die aus der Tischlerwerkstatt traten, grüßten stramm. Fast wie auf einem winterlichen Kasernenhof, wären die Türme und der Drahtzaun, die ausgehungerten Gesichter und die Sehnsucht nach der Heimat nicht gewesen.
Dr. Schultheiß sah, wie Dr. Böhler an der Kommandantur seine Stiefel abklopfte und die Tür aufriß. Dann war er im Innern verschwunden, und Dr. Schultheiß hatte das Gefühl, er werde ihn nie wiedersehen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Ingeborg Waiden stand hinter ihm. Sie hatte Tränen in den Augen.
»Ich habe Angst«, sagte sie leise.
»Ich auch, kleine Schwester.« Er legte den Arm um ihre Schulter. »Aber das Leben wird weitergehen, wenn es sein muß, auch ohne den Chef. Tausende brauchen uns, wie wir Dr. Böhler brauchen.« Er strich ihr mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen und zog sie in die Baracke.
Am Fenster des Nebengebäudes stand Janina Salja und beobachtete sie. Sie sah, wie er sie umfaßte, wie seine Hand über ihre Wangen strich. Ihre Augen brannten, rote Flecke zeichneten sich auf ihrer blaßgelben Haut ab.
Die deutsche Schwester! Diese verfluchte, hübsche Deutsche!
Sie trat zurück in ihr Zimmer und griff unter das Kopfpolster des Bettes. Eine kleine Pistole lag in ihrer Hand. Sie betrachtete sie nachdenklich, ehe sie die Waffe in die Tasche ihres Morgenrockes steckte. Dann trat sie an die Tür und rief in den Gang hinaus: »Dr. Schultheiß soll kommen!«
Füße trappelten. Ein Sanitäter lief, den Arzt zu holen.
In der Tasche des Morgenrockes hielt Janina den Griff der Waffe umklammert, ihr Körper bebte.
Sie hörte durch den Spalt der geöffneten Tür auf dem Gang seinen schnellen, festen Schritt.
Jens, dachte sie. Jetzt geht er
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