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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Situation, in der doch seine Zukunft auf dem Spiel stand. Er fühlte sich bettschwer, so als sei dies ein ganz normaler Tag, an dem er bereits um halb zehn Uhr abends sich wünschte, es wäre elf. Um elf zu Bett zu gehen war einigermaßen ehrenhaft; nicht selten verbrachte Jensen seine Abende unter dem Diktat der Wanduhr in seinem Wohnzimmer: Er harrte aus, bis sie den Zeitpunkt des ehrenvollen Rückzugs anzeigte. Das würde sich ändern, wenn Marleen da war. Marleen würde gegen die Uhr leben, mitten in der Nacht würde sie Hunger bekommen oder sich an ihrer Wiege Gesellschaft wünschen. Und das wird dir guttun, dachte Jensen mit Blick auf die Bahnhofsuhr, es war tatsächlich halb zehn. Du wirst die Nacht wieder kennenlernen, die frühen Morgenstunden, es wird dich beleben, a rolling stone gathers no moss. Er konnte sich nicht mehr an das entsprechende deutsche Sprichwort erinnern. Aber auch das würde sich durch Marleen ändern. Wenn das Leben sich dem Stillstand näherte, ließ das Gedächtnis nach, kein Wunder: Es wurde nicht mehr mit genügend erinnerungswürdigen Daten versorgt. Wenn sich nichts mehr ereignete, gab es auch nichts zu erinnern. Ihm aber standen bedeutende Veränderungen bevor; Marleen würde ihn mit erinnerungswürdigen Ereignissen reich beschenken. Ihr erstes Lachen, ihr erstes Wort, die ersten Schritte. Alles beginnt von Neuem, dachte er, und das würde er sich nicht nehmen lassen, nicht von De Reuse, nicht von Verstreken, nicht von Ilunga Likasi, von niemandem.
    Entschlossen, den Kampf um Marleen zu gewinnen, ging er durch die Statie-Straat auf das Pub zu, vor dem Jugendliche standen, Zigarettenrauch stieg aus ihrer Mitte auf. Ihr Lachen zitterte in der Kälte. Alle sprachen hastig, die Zigaretten konnten nicht schnell genug geraucht werden, die Kälte zwang zur Eile, in jeder Beziehung, auch die Küsse wirkten übereilt. Es waren viele, und sie standen dicht beieinander, Jensen wurde nicht ohne Weiteres durchgelassen. Die körperliche Überlegenheit dieser jungen Frauen und Männer war eklatant. Sie lebten in einem ewigen Sommer,es waren Muskeln zu sehen, Bauchnabel, sogar ein freier Rücken. Jensen kam sich in seiner Skijacke gebrechlich vor, ein havarierter Mensch, dessen Knochen, Organe und Gelenke nur noch dazu da waren, um sich zu entzünden und die ganze Bandbreite möglicher Erkrankungen auszuloten. Einen Moment lang drohten seine Zweifel wieder überhandzunehmen: mit einundfünfzig noch ein Kind!
    Aber ja, dachte er, ja, es ist, wie es ist!
    Im Pub herrschte weniger Betrieb, als er erwartet hatte; die meisten Gäste standen offenbar draußen. An der Bar, unter einer gewölbten, holzverkleideten Decke, hockten ein paar Männer, Afrikaner, die, als Jensen hereinkam, gerade in einen Ausruf der Enttäuschung ausbrachen. Ein Fußballspiel wurde übertragen. Jensen setzte sich an den erstbesten Tisch. Er blickte zu Lulambo hinüber, der mit den Männern in seiner Heimatsprache debattierte. Das Spiel fesselte Lulambo so sehr, dass es eine Weile dauerte, bis er Jensen bemerkte.
    Jensen hob kurz die Hand.
    Lulambo fixierte einen Punkt an der Decke, er schien den Tag zu verfluchen. Widerstrebend löste er sich aus der Gruppe seiner Freunde. Während er sich Jensens Tisch näherte, blickte er so lange wie möglich über die Schulter zum Bildschirm, als würde das Spiel ohne ihn zum Stillstand kommen.
    »Ghana gegen Kamerun«, sagte er. Er stellte sein Bierglas auf den Tisch und setzte sich. »Es ist ein Videoband. Mein Bruder hat es mir geschickt. Ich werde mir das Spiel dann eben morgen noch einmal ansehen.«
    »Wenn es ein aufgezeichnetes Spiel ist«, sagte Jensen, »kennen Sie ja das Ergebnis schon.«
    »Das würde ich nie tun.« Lulambo schüttelte sehr ernst den Kopf. »Nein. Ich schaue es mir nie vorher an. Undmein Bruder ist verschwiegen. Er schickt mir das Band, mit einem Brief, in dem er mich fragt, wie es mir geht. Aber das Resultat würde er mir nie verraten. Manchmal merke ich allerdings an der Art, wie er schreibt, ob Ghana gewonnen oder verloren hat.«
    »Oder Sie befragen Ihren Fetisch.«
    »Wie ich schon sagte: Wenn ich ein Videoband habe, brauche ich keinen Fetisch, nur ein bisschen Geduld. Wenn ich zu neugierig wäre, würden meine Freunde mir das übel nehmen.«
    Lulambo drehte sich um und wies mit dem Kopf zur Bar.
    »Wir bekommen die Spiele mit einer Woche Verspätung. Manchmal hat natürlich einer durchs Radio oder in der Zeitung schon vorher gelesen, wie das Spiel

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