Der Assistent der Sterne

mein Alibi ist lückenlos. Ich kann unmöglich der Täter sein …«
    Das heißt Malhomme, dachte Jensen.
    »… und aus diesem Grund wird es meine Glaubwürdigkeit noch erhöhen, wenn ich gestehe, dass ich unter anderen Umständen sehr wohl zum Täter geworden wäre. Mein Motiv ist allerdings beträchtlich komplexer als das Ihre. Sie haben Ilunga umgebracht, weil die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Freundin auf tönernen Füßen steht. Ein einziger Seitensprung, und alles bricht zusammen. Das ist Obsession von der Straße, wenn Sie verstehen, was ich meine. Gossenemotion. Merkwürdigerweise machen Siegar nicht diesen Eindruck. Sie verbergen den Troglodyten in sich sehr geschickt. Aber Ilunga hat ihn hervorgeholt. Und wovor, Jensen, fürchtet sich der Troglodyt? Vor dem Verlust der Routine. Da ist eine Frau, und er bespringt sie jede Nacht, und sie lässt es zu. Wenn sie aber erfahren würde, dass er eine andere Frau begattet hat, würde sie es nicht mehr zulassen. Da er sich nicht sicher ist, ob die Frau, die er nur einmal begattet hat, ihm in Zukunft genauso uneingeschränkt zur Verfügung stehen wird wie die andere, erschlägt er eben die Eine-Nacht-Frau. Das ist eine pragmatische Lösung mit dem Ziel, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie sind ein eindimensionaler Mensch, Jensen, und dementsprechend trivial war Ihr Motiv.«
    Jensen war an De Reuses rachsüchtigen Ausführungen nur halb interessiert. Viel wichtiger war für ihn der verunfallte Lieferwagen: Er schwebte inzwischen an vier Ketten, der Kranarm des Abschleppwagens schwenkte langsam nach links, die zerbeulte Fracht wurde verladen. In wenigen Minuten würde die Fahrbahn frei sein.
    »Für Sie«, sagte De Reuse, »war Ilunga keine persönliche Bedrohung, auch wenn Sie das natürlich so empfunden haben. Sie hat lediglich Ihren Alltag in Gefahr gebracht, sie hat Ihre Routine gestört. Aber Ihre Persönlichkeit hat sie nicht angetastet. Allenfalls hat sie Ihre dunkle Seite zum Vorschein gebracht, Ihre Gewaltbereitschaft, Ihre jämmerliche Furcht vor Veränderung. Aber bei mir, Jensen, war es umgekehrt. Sie hat nicht meine Welt bedroht, sondern mich, meine Persönlichkeit, meinen Kern, den Charakter. Von Anfang an war es ihr Ziel, mein Wesen zu verändern. Sie ging dabei sehr geschickt vor, ich merkte zuerst gar nicht, was mit mir geschah. Ich ließ mir von ihr kleine Gewohnheiten ausreden und nahm dafür andere an, nämlich ihre, und alles schien mir richtig zu sein, weil es neu war.Sie war dreißig Jahre jünger als ich. Warum hätte ich mich nicht in ihre Richtung verändern sollen? Im Bett wollte sie gebissen werden, also habe ich sie gebissen, ich hielt es für eine Spielerei. Mit der Zeit verlangte sie ernsthaftere Bisse, Bisse bis aufs Blut. Ich hatte ihr Blut im Mund, Jensen, die Bettlaken waren …«
    »So genau will ich es nicht wissen«, sagte Jensen.
    »Ich habe ihr ein Stück Fleisch aus der Wade gebissen. Ist Ihnen die Narbe nicht aufgefallen, zwei Handbreit über ihrem Knöchel? Und selbst dann noch, als ich dieses Stück Fleisch auf den Boden spuckte, redete ich mir ein, dass dieses Verhalten zwar abartig, aber nur auf die Sexualität begrenzt war. Ich zog eine Grenze, wo keine war. In Wirklichkeit nahm ich das Tier mit, wenn ich das Schlafzimmer verließ. Ich nahm es mit in die Vorlesungen, ins Labor, ich kalibrierte einen Detektor und hatte den Geschmack von Ilungas Fleisch im Mund. Aber das Schlimmste war die Schwäche, Jensen. Ich fand keinen Halt mehr in mir, es gab kein Zentrum mehr, keine Instanz. Mein Inneres hatte sich verflüssigt. Ilunga brauchte nur ihre Hand einzutauchen, und ich machte die Wellen, die sie wollte. Natürlich habe ich versucht, es zu beenden. Aber die Energie, Jensen, die Energie, die zu einer Trennung nötig ist … woher hätte ich sie nehmen sollen?«
    Ein Mann, dessen Gesicht unter der Kapuze seines Anoraks kaum zu erkennen war, klopfte an Jensens Wagenfenster. Er deutete auf die Zigarette in seinem Mund. Jensen schüttelte den Kopf. Der Mann, auf der Suche nach Feuer, wandte sich dem nächsten Wagen zu.
    »Für all das gibt es keine Erklärung«, sagte De Reuse. »Die Wirkung, die Ilunga auf mich hatte, ist mir ein Rätsel, ich verstehe es nicht. Es war, als hätte ich eine neue Naturkonstante entdeckt, für die es noch keine mathematische Beschreibung gibt. Ich konnte die Wirkung lediglich dokumentieren, aber ich verstand das Prinzip nicht, ich konnte die Gesetzmäßigkeiten nicht entschlüsseln. Ein