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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Deck mit blutüberströmtem Gesicht aufrichtete. Der weiße Mantel verlor sich in der Dunkelheit hinter dem Hafenzaun. Es war eine stumme, endgültige Dunkelheit, und sie türmte sich auf, wie eine schwarze Flutwelle, so hoch, dass die Sterne hinter ihr erloschen. Es war nicht notwendig, dass die Dunkelheit nun noch etwas tat. Sie verharrte regungslos, mit offenem Maul, während alles andere sich auf sie zubewegte.
    Tiere sterben, ohne zu wissen, dass es den Tod gibt, sagte De Reuse.
    Der weiße Mantel lag auf dem Quai, der Wind spielte damit. De Reuse setzte den Fuß auf den Mantel und schaute hoch, zu Jensen, der an der Reling stand. Es war ein vorwurfsvoller Blick.
    Der Erdgeist kann nicht lügen, sagte Lulambo.
    Ich wollte sie nur retten, sagte Jensen.
    Lulambo zuckte die Achseln und ging.
    Auch De Reuse ging. Sie gingen alle. Nur Jensen bliebzurück. Er schaute auf den weißen Mantel hinunter, und er erwachte in der Gewissheit, dass der Mantel ihm gehörte.

    Nach der siebenundzwanzigsten Speise brannte das Nachtlicht wieder. Li Zhang hatte eine neue Birne eingeschraubt. Eine Speise später dachte Jensen über ein ungelöstes Problem nach. Wie hatte Lulambo wissen können, dass Ilunga Likasi sich auf dem Schiff befand?
    Er hat geraten, dachte Jensen. Vielleicht auch nicht. Wenn er es aber wusste, dann bestimmt nicht von Jorn. Vielleicht tatsächlich von seinem Erdgeist.
    Herrgott noch mal!, dachte Jensen. Es sah ganz danach aus, als habe Lulambo es intuitiv gewusst. Als habe er auf übersinnliche Weise in die Gegenwart geschaut. Nicht in die Zukunft!, dachte Jensen. Das war das Entscheidende. Den Blick in die Zukunft schloss die Physik aus; es war unmöglich, die Zukunft exakt vorherzusagen. Aber für die Kenntnis der Gegenwart über Zeit und Raum hinweg gab es in der Physik einen Präzedenzfall, die Quantenverschränkung, die zum Merkwürdigsten gehörte, was das Universum zu bieten hatte. In entsprechenden Experimenten zeigten Photonen ein rätselhaftes Verhalten. Wenn man ein einzelnes Photon in zwei Photonen mit je der halben Energie des ursprünglichen Photons spaltete, und wenn man diese Zwillinge nun in entgegengesetzte Richtungen davonschickte, zeigte sich, dass die Zwillinge miteinander in Verbindung blieben. Führte man an einem der Zwillinge eine Messung durch, verhielt sich der andere so, als wüsste er davon, und zwar augenblicklich. Dieses Wissen um den anderen war unabhängig von Raum und Zeit. Die beiden Zwillings-Photonen konnten sich theoretisch Milliarden Lichtjahre voneinander entfernt befinden: Und dennochwusste der eine sofort, ohne jede Verzögerung, dass an dem anderen eine Messung vorgenommen worden war. Diese instane Kenntnis einer Veränderung, die an einem weit entfernten Ort geschehen war, ließ den Schluss zu, dass die beiden Zwillinge, obwohl es sich um zwei verschiedene Teilchen handelte, in Wirklichkeit eine untrennbare Einheit bildeten. Diese Tatsache war ein weiteres Indiz für die holistische Natur des Universums.
    Was eins ist, ist eins. Was nicht eins ist, ist auch eins.
    So umschrieben es die Buddhisten. Und es sah so aus, als hätten sie recht: Das Universum war eine Einheit. Wenn ein Wal auftauchte und die verbrauchte Luft aus seiner Atemöffnung blies, entstand eine Fontäne aus Tausenden von Wassertropfen. Jeder dieser Tropfen war zuvor eins gewesen mit dem Ozean; aber nun, für einen kurzen Moment, nahmen die Tropfen eine individuelle Gestalt an, kein Tropfen war wie der andere, und wenn die Tropfen über ein Bewusstsein verfügt hätten, hätte jeder von ihnen gedacht: Ich denke, also bin ich etwas anderes als der Tropfen neben mir. Aber sobald die Tropfen in den Ozean zurückfielen, zeigte sich, dass sie nie etwas anderes gewesen waren als Ozean, denn sie verschmolzen mit ihm so vollständig, dass von ihrer ehemaligen Individualität nicht die geringste Spur zurückblieb.
    Folglich kann man nicht ausschließen, dachte Jensen, dass es Menschen gibt, Lulambo zum Beispiel, die über die Fähigkeit verfügen, mit dieser Einheit schon zu Lebzeiten zu verschmelzen. Theoretisch wüssten sie dann alles über alle Menschen, denn sie wären mit allen Menschen eins, untrennbar verbunden, wie die Zwillingsphotonen. Es klang haarsträubend, aber die Physik verbot es nicht, sie ließ es theoretisch zu. Es war möglich, dass es Menschen gab, die über andere Menschen etwas wussten, das sie eigentlich nicht wissen konnten. über ihre Gegenwart, nota bene. Eben wie ein

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