Der Assistent der Sterne
sechzehn Speisen her. Vor acht Speisen hatte Jensen den Asiaten in Zeichensprache um ein Blatt Papier und einen Stift gebeten. Eine Speise später hatte der Asiate ihm ein Pornoheft unter den Teller geschoben, aufgrund einer falschen Interpretation von Jensens Handbewegungen. Erst zwei Speisen später hatte Jensen endlich das Material besessen, um eine eilige Nachricht an Jorn zu verfassen.
»For Jorn Lachaert«, hatte Jensen gesagt.
Der Asiate hatte genickt und war mit dem Zettel verschwunden.
Seither keine Antwort von Jorn.
Es wird auch keine kommen, dachte Jensen.
Die Nachricht musste für Jorn unglaubwürdig klingen. Bestimmt hielt er sie für eine Finte, mit der Jensen sich Zugang zum Funkgerät verschaffen wollte.
Deine Tochter ist möglicherweise in Lebensgefahr, hatteJensen geschrieben. Ich muss unbedingt mit ihr sprechen. Der Kapitän muss einen Funkspruch absetzen. An die Polizei in Antwerpen.
Darüber hatten sie oben auf der Brücke wahrscheinlich herzlich gelacht: Hält er uns für Idioten?
Das Nachtlicht schien sich manchmal zu erholen, wie gerade jetzt. Es flackerte eine Zeit lang nicht, nur um dann aber, wie erschöpft von einer Anstrengung, sekundenlang zu erlöschen. Mit angehaltenem Atem wartete Jensen auf diesen Moment völliger Dunkelheit, aus der das Nachtlicht sich zwar bisher stets wieder freigekämpft hatte. Aber die dunklen Intervalle wurden länger, bald würde die Kraft der Glühbirne erschöpft sein.
Annick.
Jensen berührte seine Fußwunde, bis es wehtat. Er bestrafte sich durch Schmerz für jeden Gedanken an Annick. Er durfte diese Gedanken nicht zulassen, sie schwächten ihn, sie änderten nichts an seiner Situation, sie verstärkten nur sein Gefühl der Hilflosigkeit. Er weinte, das war erlaubt, es ließ sich auch nicht vermeiden: Er ließ die Tränen rinnen, aber ohne an ihre Ursache zu denken. So war es richtig.
Ein Hähnchenschenkel in einer Rotweinsoße.
Siebzehnte Speise seit dem Gespräch mit Jorn.
War es wärmer geworden? Der Asiate trug ein luftiges Sommerhemd mit kubanischen Motiven, alte amerikanische Wagen unter Palmen.
»What’s your name?«, fragte Jensen. Was war er nur für ein Mensch, dass er das erst jetzt fragte. »Name?« Er tippte auf seine Brust und sagte: »Hannes.«
»Hann?«, sagte der Asiate.
»Hann. Yes. Hann.«
»Ah! Li Zhang.«
Der Mann führte sich die Finger zum Mund.
Iss.
Dann wollte er gehen.
»Li Zhang«, sagte Jensen. Er deutete auf den Fäkalienkübel, der neben dem Waschbecken stand.
»Ah!« Li Zhang lachte. Er trug den Kübel hinaus und stellte einen neuen hin.
Das Nachtlicht flackerte nur noch selten, es war ein Wunder.
Nach der einundzwanzigsten Speise begann Jensen sich für den Kübel zu interessieren. Er schien für den Zweck gebaut zu sein, dem er diente. Der Deckel hielt den Geruch zuverlässig zurück, aber natürlich nur, weil Li Zhang jedes Mal, wenn er die Speisen brachte, den Kübel auswechselte. Sie hatten zwei davon. Während der eine hier in Jensens Zelle stand, wurde der andere gereinigt. Aber gab es denn einen Markt für Fäkalienkübel? Vielleicht in Surinam?, dachte Jensen. In südamerikanischen Gefängnissen, in denen es nicht genügend Toiletten gibt? Er dachte lange darüber nach, eine Ewigkeit.
Nach der sechsundzwanzigsten Speise erlosch das Nachtlicht für immer.
Jensen saß im Dunkeln auf dem Boden, vor dem leer gegessenen Teller. Rindfleisch in Brühe. Tafelspitz. Das war das Erste gewesen, das er hier zu essen bekommen hatte. Der Koch hatte also sein Repertoire durchgespielt. Nun begann alles wieder von vorn.
Jensen tastete nach der Bierflasche und trank. Der Kollaps des Nachtlichts traf ihn nicht unvorbereitet. Er war im Gegenteil erstaunt darüber, dass es so lange durchgehaltenhatte. Zum Glück hatte er dem Nachtlicht noch keinen Namen gegeben. Er war nahe daran gewesen, es zu tun. Er hatte sich mit dem Kampf dieser Glühbirne identifiziert, mit ihrem Durchhaltewillen. Nun war sie tot, und er lebte noch.
Er lachte.
Sehr viel wärmer war es geworden. Er trug nur noch seine Hose; im Verlauf der letzten zehn Speisen hatte er zuerst den ersten, dann den zweiten seiner zwei Brügger Winterpullover abgestreift. Danach die Unterhemden. Der Kleiderballast aus kälteren Zeiten diente ihm jetzt als Kopfkissen, wenn er schlief.
Er schlief viel. In seinen Träumen glitt Ilunga Likasi, eingehüllt in ihren weißen Wintermantel, über den Landungssteg in die Nacht hinaus, während Miguel sich auf dem
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