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Der Assistent der Sterne

Der Assistent der Sterne

Titel: Der Assistent der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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zu, die Tür ließ sich nur mit Kraftöffnen. Drinnen war es zu Jensens Überraschung behaglich warm, er konnte sich das gar nicht erklären. Die Wände knackten, weil das Holz sich in der Wärme entspannte. Jensen hängte seine Jacke an einen Haken im Flur, in dem zwei Gerüche miteinander wetteiferten, der nach verbranntem Heizöl und der nach toten Mäusen. Die Wärme brachte den Verwesungsgeruch erst richtig hervor. Jensen hatte während seiner Dienstzeit Verwesungsgerüche zu unterscheiden gelernt. Die Intensität hing nicht von der Größe eines Körpers, sondern von der Menge des Körperfetts ab. Und hier in diesem Haus, vermutlich unter den knarrenden Dielen oder in Zwischenräumen hinter den Wänden, musste ein Wesen mit geringem Körperfettanteil gestorben sein, eben Mäuse oder eine magere Ratte, vielleicht auch eine Katze. Und zwar kürzlich erst, denn der Geruch war noch frisch, ein süßlicher Hammer, aber keiner, dessen Schlag einen umwarf. Er dachte an die Momente, in denen der Geruch eines toten Menschen ihn buchstäblich auf die Knie gezwungen hatte, mit letzter Kraft hatte er sich die Atemmaske über das Gesicht gestülpt. Er verscheuchte diese Erinnerungen, das hier war ja ein ganz anderer Geruch, eine harmlose Verwesung. Dennoch war es merkwürdig: Was hätte eine Ratte oder gar eine Katze dazu bewegen sollen, die Abfalleimer Reykjavíks zu verlassen und dreihundert Kilometer weit über vereiste Vulkanschlacke zu trippeln, nur um dann in diesem gottverlassenen Haus den Hungertod zu finden?
    Es ist eben so, dachte er. Es fiel ihm üblicherweise schwer, die Dinge auf sich beruhen zu lassen, aber manchmal konnte er sich dazu durchringen und empfand es dann stets als Erlösung.
    Er war müde und jetzt auch hungrig. Um in die Küche zu gelangen, musste man ein kleines, düsteres Zimmerdurchqueren, das planlos mit abgewohnten Möbeln vollgestellt war, die auf den Transport zum Trödler zu warten schienen. Die Dielen waren morsch, an einer Stelle sogar gebrochen, man hätte leicht mit einem Bein im Keller landen können.
    »Vorsicht!«, rief Van Gaever aus der Küche. »Da ist ein Loch im Fußboden. Neben dem Sofa.«
    Jensen setzte sich zu Van Gaever an den Küchentisch, auf dem ein Suppenteller stand, aus emailliertem Blech. Dazu ein dünner, verbogener Löffel, so als habe eine untergegangene Armee hier Geschirr und Besteck zurückgelassen.
    »Ich habe schon gegessen«, sagte Van Gaever. »Das ist unhöflich, ich weiß. Aber ich war sehr hungrig. Die Büchsen stehen im Schrank dort. Warten Sie, ich hole Ihnen eine.«
    Jensen wollte das aber selbst tun, um sich einen Überblick über die Vorräte zu verschaffen. Es gab nur eine Sorte Büchsen, Tomatensuppe. An der Rückwand des Schranks hing ein Kalender aus dem Jahr 1976.
    »Die Suppe schmeckt sauer«, sagte Van Gaever. »Das Haltbarkeitsdatum ist abgelaufen. Vor zwei Jahren.« Er seufzte. »Aber ich glaube nicht, dass es schädlich ist. Wenn es eine Fleischsuppe wäre, dann ja. Aber Tomaten … was meinen Sie?«
    »Sie sind der Chemiker. Ich war Polizist. Sagen Sie es mir: Könnte man mit dieser Suppe jemanden umbringen?«
    »Wie kommen Sie denn darauf?«
    Es war schwierig, mit Van Gaever zu scherzen.
    »Und die anderen?«, fragte Jensen. »Wo sind sie?«
    Van Gaever zeigte mit dem Finger an die Decke.
    »Da oben. Schon seit einer Stunde. Sie werden es gleich hören. Ich glaube … sie sind noch nicht fertig.« Van Gaever blickte mit ernstem Gesicht auf seine Hände.
    Das Schneiderad des Dosenöffners war stumpf; beim Versuch, die Dose zu öffnen, verbrauchte man mehr Kalorien, als man durch die Suppe gewann. »Gibt es wirklich nichts anderes als diese Suppen?«, fragte Jensen.
    Van Gaever schüttelte den Kopf.
    Plötzlich sprang das Küchenfenster auf, eine Böe hatte es aufgedrückt, die Vorhänge flatterten im Wind, es wurde schlagartig kalt.
    »Das ist auch so etwas«, sagte Van Gaever. Er zuckte die Achseln.
    Jensen versuchte, das Fenster zu schließen, der Hebel rastete nicht richtig ein. Er arretierte das Fenster mit einer Bratpfanne, die er dagegenlehnte. Einen Moment lang betrachtete er die Eisrosen, die sich in den Fensterecken gebildet hatten. Selbst in dieser lebensfeindlichen Einöde schuf die Natur komplexe, filigrane Muster, die man unweigerlich als schön empfand. Sie waren nur das Ergebnis blinder Kristallisationsprozesse, und dennoch war ihre Schönheit zwingend.
    Die Decke begann zu knarren, die Ouvertüre. Das Quietschen von

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